Über das Paradox der KI-Entwicklung, dass sich diese oft zwischen Evolution und Disruption/Revolution bewegt, habe ich schon öfter geschrieben. Sehr prominent in einem Beitrag, der leider erst im Herbst im HFD-Magazin „strategie digital“ erscheint. Ich konstatiere dort, dass die Auswirkungen der KI-Entwicklungen für den Hochschulbereich (generell aber auch für die Gesellschaft als ganze) sowohl unter- als auch überschätzt wird: Die Wahrnehmung bewegt sich zwischen der Zuschreibung eines präzedenzlosen disruptiven Potenzials einerseits und der Tatsache, dass der erwartete ‚große‘ Knall andererseits ausbleibt. Dazu schreibe ich dann: „Auf den ersten Blick erscheint diese Situation paradox, doch bei genauerer Betrachtung lässt sich das Paradox auflösen: Gerade, weil die Technologie disruptives Potenzial besitzt, weitere Entwicklungen schwer antizipierbar sind und Unsicherheit über die künftigen Bedürfnisse von Hochschulen in Bezug auf KI besteht, ist es nur möglich, sich in kleinen, experimentellen Schritten vorzutasten. […] Die evolutionäre, experimentelle Umsetzung neuer Ansätze ist somit Bestandteil und nicht Gegensatz einer disruptiven Transformation. Das eigentliche Transformationsparadox liegt in der Wahrnehmung des Wandels: Die kleinen Schritte, die eine von Disruption ausgelöste Transformation kennzeichnen, vermitteln zunächst ein Gefühl von Kontrolle und Handlungsfähigkeit und damit psychologische Sicherheit. Paradoxerweise führen aber eben diese inkrementellen Maßnahmen dazu, dass die erwartete radikale Umwälzung nicht spürbar wird und der Wandel als weniger dringlich oder gar als diskursive Übertreibung wahrgenommen wird. KI erscheint gleichzeitig als evolutionär und revolutionär, was eigentlich zwei unterschiedliche Entwicklungslogiken impliziert und deshalb zu Unsicherheit und widersprüchlichen Handlungsweisen führt“. Mehr dazu dann im Herbst.
Diese Woche habe ich nun Armin Nassehis „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ gelesen und bin dort auf S. 77 über Gedanken gestolpert, die genau der gleichen Logik folgen wie meine Argumentation – nur eben nicht in Bezug auf KI. Ich möchte das, was Nassehi sagt, auf KI übertragen: Wenn wir über genKI sprechen, fixieren wir uns oft auf die großen Sprünge, also die disruptiven Momente: GPT-5 geht viral, DeepMind löst jahrzehntealte Proteinrätsel, ein KI-generiertes Bild gewinnt einen Kunstwettbewerb. Solche Ereignisse ziehen Aufmerksamkeit an, weil sie klar markierbare Brüche darstellen.
Doch wie Armin Nassehi beschreibt, liegt zwischen Evolution und Revolution „nicht nur eine logische, sondern vor allem eine zeitliche Lücke“. Evolutionärer Wandel – das langsame, oft unbemerkte Einschleifen neuer Technologien in Alltag und Strukturen – entzieht sich unserer Wahrnehmung. Wir merken oft erst im Rückblick, wie sehr KI bereits Arbeitsprozesse, Entscheidungsroutinen oder Kommunikationsformen verändert hat. Das macht es gefährlich, den leisen Wandel zu unterschätzen. Wer nur auf das Spektakel der Disruption schaut, übersieht die stetige Umgestaltung, die uns im Stillen stärker prägt und die oft nachhaltiger wirkt als jeder große Durchbruch. Die eigentliche Transformation geschieht oft nämlich evolutionär, in der stillen Anpassung unserer Arbeitsweisen, in den unscheinbaren Routinen, die sich einschleichen, in der Art, wie wir Entscheidungen treffen oder Informationen verarbeiten.
Das Dilemma: Evolution verkauft sich schlecht. Sie ist schwerer zu erkennen, schwerer zu messen und noch schwerer zu feiern. Und doch könnte genau sie der Ort sein, an dem die nachhaltigsten Veränderungen durch KI passieren. Wenn sich der Umgang mit KI so selbstverständlich in unseren Alltag einschreibt, dass wir ihn gar nicht mehr als „KI-Einsatz“ wahrnehmen, dann ist die eigentliche Revolution längst geschehen.
Vielleicht sollten wir also im KI-Diskurs öfter mal den Blick auf das Unauffällige richten. Auf die kleinen Verschiebungen, die sich nicht in Schlagzeilen, aber in Gewohnheiten niederschlagen. Das klingt weniger spektakulär, ist aber möglicherweise die tiefere, wirksamere Form des Wandels. Gerade in der KI-Debatte brauchen wir daher einen doppelten Blick: Wir sollten uns nicht nur fragen, was uns morgen überrascht, sondern auch, was uns heute schon unmerklich verändert.
Am Ende noch eine weitere Buchempfehlung, die nichts mit KI zu tun hat: Mitte Juli ist in der UTB-Verlagsreihe der Titel „Pädagogische Theorien“ erschienen. Aus dem Klappentext: „Dieser Band präsentiert erstmals zentrale Theorien der deutschsprachigen Pädagogik/Erziehungswissenschaft und ihrer Teildisziplinen in einem Gesamtüberblick. Ausgewiesene Wissenschaftler:innen bieten eine verständliche Darstellung von historischen und aktuellen Theorien zu Erziehung, Bildung, Unterricht, Lehren und Lernen, Beratung, Schule, Bildungsmedien sowie zu Elementar-, Sozial-, Organisations-, Berufs- und Medienpädagogik, Erwachsenenbildung und diskutieren die internationale Vergleichbarkeit dieser Theorien.“ Für mich als Nicht-Pädagogin, aber als Person, die im Bereich Bildung, Lernen, Didaktik tätig ist, definitiv ein sehr wertvoller Sammelband, der gut an mein Vorwissen anknüpft, dieses aber sehr stark zu erweitern vermag.