Ein Gastbeitrag von Dr. Lavinia Kamphausen
„All we have is now“, prangt es in rot leuchtenden Lettern von der Wand des Cycling-Studios, in dem ich bei lauter Musik, grellem Licht und mit 49 anderen schwitzenden Menschen meinen Sonntag damit beginne, eine Dreiviertelstunde in die Pedale zu treten – ohne mich einen Meter vom Fleck zu bewegen. So platt der Spruch, so sicher der sich anschließende Muskelkater. Und doch muss ich unwillkürlich schmunzelnd an genau diese Worte denken, als ich beginne, diesen Blog-Eintrag zu verfassen.
Mein Argument in diesem Beitrag ist dezidiert nicht, dass wir die Augen vor den multiplen möglichen Zukünften verschließen sollen, auf welche wir uns ohne Frage mit jedem Tag zubewegen. Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass einige der größten Krisen unserer Zeit aus vergangener Zukunftsvergessenheit resultieren und dass insbesondere die Integration möglicher Folgen unseres Handelns in unsere Entscheidungen der Gegenwart essenziell ist. Mein Anliegen ist vielmehr erstens, vor lauter Basteln, Modellieren und Imaginieren von Zukünften nicht die unendliche Vielfalt an Möglichkeiten der Gegenwart zu übersehen, sowie zweitens, jene Herausforderungen anzuerkennen, mit denen wir bereits heute konfrontiert sind, und die uns ebenso viel, wenn nicht sogar mehr über nützliche Kompetenzen lehren als Zukünfte.
Bezüge auf die Zukunft sind in Hochschulentwicklung und -didaktik allgegenwärtig. Erst diese Woche kündigte der Stifterverband sein neues Förderprogramm „Futureversities – Skalieren, verankern, Zukunft gestalten“ an, meine Kolleg*innen erzählen vom University:Future Festival und ein Kompetenzmodell nach dem anderen definiert die neuesten Future Skills.
Hochschulbildungsforschung, so stellte ich auch vor einigen Jahren während der Literaturrecherche für meine Dissertation fest, ist gleichermaßen besessen von der Zukunft. Diese wird wahlweise als die ultimative Erfüllung jeglicher Hoffnungen oder aber als dystopische Herausforderung schlechthin konzeptualisiert. Es waren die Studierendenaktivist*innen in Köln und Oxford, mit denen ich während meiner einjährigen ethnographischen Forschung zusammenarbeitete, welche meinen Blick – konträr zu dieser Literatur und mich überraschend – ganz woanders hinlenkten: nämlich in die Gegenwart. Immer wieder begegnete ich der Unmittelbarkeit, welche sowohl die Wahrnehmung gesellschaftspolitischer Herausforderungen an Universitäten als auch die (aktivistischen) Antworten dieser Studierenden prägte. Klimagerechtigkeit? Wird auch in der Essensauswahl der Kölner Mensa verhandelt. Resilienz und Umgang mit Konflikten und unterschiedlichen Interessen? Muss auch in den Gemeinschaften der Studierendenaktivist*innen eingeübt werden. Geschlechtergerechtigkeit? Kann auch in den wöchentlichen Plena einer Gruppe mit Hilfe von Redelisten ins Bewusstsein gerufen werden.
Inspiriert von diesen politischen Praktiken strich ich mein Literatur Review zur Zukunft der Universität gänzlich – und erschloss mir einen sich dezidiert der Gegenwart der Hochschule zuwendenden Literaturkorpus. Damit folgte ich unter anderem Keri Facers (2013, 137) Aufruf, anstelle der Zukunft die Gegenwart als Quelle kreativer Möglichkeiten und Selbstwirksamkeit zu betrachten, und zwar jenseits einer bloßen Kritik dominanter Zukunftsdiskurse oder der Erschaffung idealisierender Alternativen. Die Studierenden, mit denen ich zusammenarbeitete, taten genau das und praktizierten damit präfigurative Politik: „the embodiment, within the ongoing political practice of a movement, of those forms of social relations, decision making, culture, and human experience that are the ultimate goal“ (Boggs 2010). Präfigurative Politik wird zu Recht kritisiert, wenn sich (politisches) Handeln in ihr erschöpft; wenn sie dazu führt, dass die größeren, strukturellen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht mehr bearbeitet werden. Doch sind die Studierenden, die präfigurative politische Praktiken verfolgen, schlichtweg häufig die letzten, die sich nicht auch über diese hinaus für gesellschaftliche Veränderung einsetzen: in der studentischen Selbstverwaltung, in universitären Gremien, in Gewerkschaften, Kirchen und NGOs. So sind die von Unmittelbarkeit geprägten Praktiken der Studierenden für mich ein Ausdruck von Integrität: sie kultivieren auch in der alltäglichen Organisation ihrer Arbeit Praktiken, die Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ermöglichen. Sie sind nicht nur, aber eben auch hier und jetzt aufmerksam für soziale Ungleichheiten.
Gegenwart und Zukunft sind natürlich untrennbar miteinander verbunden. Unsere Vorstellungen von unserer Zukunft haben immensen Einfluss auf unsere Wahrnehmung von und unser Handeln in der Gegenwart; unsere Annahmen, Hoffnungen und Handlungen in der Gegenwart prägen unsere Zukunft. In diesem Kontext finde ich Jacques Derridas Unterscheidung zwischen Futur und Avenir produktiv; den Unterschied zwischen der planbaren, vorhersehbaren Zukunft, auf die wir zusteuern, und der unvorhersehbaren Zukunft, die auf uns zukommt:
„The future is that which – tomorrow, later, next century – will be. There’s a future that is predictable, programmed, scheduled, foreseeable. But there is a future, l’avenir (to come), which refers to someone who comes whose arrival is totally unexpected. For me, that is the real future. That which is totally unpredictable. The Other who comes without my being able to anticipate their arrival. So, if there is a real future beyond the other known future, it’s l’avenir in that it’s the coming of the Other when I am completely unable to foresee their arrival.“ (White 2007, 407)
Zwischen diesen beiden Zukünften? Wartet die Kontingenz; die „Nichtnotwendigkeit von Ereignissen in an sich scheinbar geschlossenen Strukturen“, wie Prof. Oliver Reis in seiner Keynote auf der Turn Konferenz 2023 an der TH Köln definierte. Nicht alles Zukünftige folgt Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Das Gegenteil ist der Fall. Zukunft ist von Nichtnotwendigkeit geprägt. Wir verfügen nicht über sie.
Ähnlich omnipräsent wie der Diskurs um die Zukunft erscheint mir derzeit jener um die Transformation der Hochschule angesichts „Großer gesellschaftlicher Herausforderungen“, wie der Wissenschaftsrat (2025) sie nennt. Seit gut einem halben Jahr folge ich den Diskursen rund um Transformation im Rahmen meiner Arbeit in einem Karriereentwicklungsprogramm, welches Promovierende und Postdocs auf ihre Tätigkeiten unter dem Schirm einer Transformativen Wissenschaftspraxis vorbereiten soll. Dieses Programm begleite ich wiederum forschend: So versuchen meine Kolleg*innen und ich zurzeit zu begreifen, welche Kompetenzen es braucht, um im Sinne einer Transformativen Wissenschaftspraxis gesellschaftsrelevante, transdisziplinäre Forschungsprojekte durchzuführen und dabei eine Vielzahl an Systemen, Akteur*innen, Werten und Bedürfnissen zu navigieren und letztlich zu integrieren.
Es ist gar nicht so, dass ich etwas gegen Future und Transformative Skills einzuwenden hätte. Lasst uns Selbstregulation und -organisation, Kreativität und Entscheidungskompetenz entwickeln, lasst uns Verantwortung übernehmen und empathisch sein. Darüber sollten wir aber erstens nicht vergessen, dass viele Menschen schon immer genau diese Kompetenzen verfolgen und einüben (mussten), um nicht zuletzt in dem System Hochschule zu bestehen – wenn sie Lösungen finden, sich auf Veränderung einstellen, Gemeinschaft leben, sich organisieren mussten und müssen; wenn ihre Resilienz auf die Probe gestellt wurde und wird. Und zweitens sollten wir versuchen, ehrliche Antworten auf die Frage zu finden, von welchen dieser Kompetenzen wir schon lange wissen, dass sie uns guttun und zu nachhaltiger Veränderung führen würden, sie aber trotz aller bereits vorhandener Möglichkeitsräume gerne mal links liegen lassen. Wie viel Zeit nehmen wir uns Tag für Tag, um nach innen zu schauen, etwa im Sinne der Inner Development Goals? Wie intensiv setzen wir uns mit unseren Werten auseinander? Wie empathisch ist die Kommunikation in unseren Teams heute? Wie viel Verantwortung dürfen wir übernehmen in den Hochschulstrukturen, in denen wir heute arbeiten?
So lenkt die Omnipräsenz von Future Skills, Literacy, Frameworks, Mindsets usw. im schlimmsten Fall davon ab, die immensen Herausforderungen der Gegenwart anzuerkennen, die uns im Hochschulsystem etwa schon heute eine enorme Flexibilität und Resilienz abverlangen. Die Landesregierung NRW plant ab dem Haushaltsjahr 2026 eine Reduktion der Grundfinanzierung um 255 Millionen Euro; Wissenschaftler*innen früher Karrierestufen sind an Hochschulen allerorts mit prekären, weil befristeten und unsicheren Arbeitsverhältnissen konfrontiert; Studien legen nahe, dass ein Drittel der Studierenden Burnout-gefährdet ist. Und all jene Entwicklungen, die als ‚Megatrends‘ gehandelt werden, sind ebenfalls schon heute präsent und spürbar: Ob Klimawandel, die Infragestellung demokratischer Systeme oder Digitalisierung – all das ist bereits da, fordert uns – auch an der Hochschule – heraus. Ich frage mich vor dem Hintergrund dieser Befunde, wie verantwortungsbewusst es ist, genau diesen Menschen das nächste Kompetenzmodell nahezulegen, welches sie beherrschen sollten? Ist der Appell, sich auf die Zukunft vorzubereiten, haltbar, wenn die Herausforderungen der Gegenwart schon so massiv sind? Und, ist genau das nicht auch Ausdruck einer Individualisierung von Wohlergehen? Wenn ich erst in der Lage bin, mich anzupassen, mich ständig weiterzuentwickeln, lern- und leistungsbereit zu bleiben, Ambiguität auszuhalten; wenn ich erst mal resilient bin; wenn ich erst kompetent genug bin – dann werde ich auch in der Zukunft bestehen; dann werde ich selbst in einer Zukunft erfolgreich sein, die sich durch Klimawandel und die Aushöhlung der Demokratie auszeichnen soll.
So mag das Einüben von Future und Transformative Skills zwar in vielen Kontexten heute als absolute Notwendigkeit gehandelt werden – es ist aber auch ein Privileg. Es geht von Studierenden aus, die neben Studium, Nebenjobs, Sorgearbeit und sonstigem Kompetenzerwerb auch noch Zeit und mentale Kapazitäten für den Erwerb von Kompetenzen haben, die sie vielleicht ohnehin entwickeln würden, gäbe es mehr studentisch organisierte Räume, hätten sie mehr Zeit, sich auf ihr Studium zu konzentrieren, mehr Kontexte, in denen sie Gemeinschaft erfahren können, mehr Einfluss in universitären Gremien. Felix Heidenreich (2023, 56) macht deutlich, dass Zukünfte ungleich verteilt sind: „Die oft beschworene ‚Spaltung der Gesellschaft‘, von der nicht immer klar ist, worin genau sie eigentlich besteht, betrifft also nicht nur ideologische Lager oder den Prozess einer politischen Polarisierung, sondern vor allem eine Art Akkumulation von Zukunft. Wenigen steht die Zukunft offen, für viele wird die Zukunft immer enger, kürzer, kleiner […]“. Future Skills versuchen gleichzeitig zu viel und zu wenig: sie versuchen zu viel, wenn sie uns auf etwas vorbereiten, was inhärent offen, weil kontingent ist; sie versuchen zu wenig, wenn sie uns davon ablenken, was jetzt schon da ist und eigentlich unsere Aufmerksamkeit verlangt. Denn zumindest vorerst stimmt das ja schon… all we have is now.
Literatur
Boggs, C. (2010) „Marxism, prefigurative communism, and the problem of workers’ control“, libcom.org. Abrufbar unter: https://libcom.org/library/marxism-prefigurative- communism-problem-workers-control-carl-boggs.
Facer, K. (2013) ‚The problem of the future and the possibilities of the present in education research’, International Journal of Educational Research, 61, 135–143.
Heidenreich, F. (2023) Die Zukunft der Demokratie. Wie Hoffnung politisch wird. Ditzingen: Reclam.
Wissenschaftsrat (2015) ‚Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über Große gesellschaftliche Herausforderungen. Positionspapier‘. Stuttgart.
Dr. Lavinia Kamphausen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Lehrentwicklung im Team Hochschuldidaktik an der TH Köln. Sie wurde mit einer ethnographischen Arbeit zu Studierendenaktivismus in Oxford und Köln an der University of Oxford promoviert.
Kontakt: lavinia.kamphausen@th-koeln.de