Widerstand zweierlei Art: Politische Irritationen und ‚Prüfungsrevolutionen‘

Eine persönliche Irritation über politische Schubladen und eigene blinde Flecken

Ich war diese Woche beim Wirtschaftskongress der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag. Irgendwoher hatte die FDP meine geschäftliche E-Mail-Adresse und lud mich vor einigen Wochen dazu ein. Eigentlich wollte ich die Einladung ignorieren, aber dann fand ich ein paar Workshopthemen doch ganz spannend und ging hin. Meine Erlebnisse dort waren nicht nur fachlich interessant, sondern auch ziemlich erkenntnisreich im Hinblick auf mich selbst.

Schon während der ersten Keynote (Prof. Justus Haucap, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) habe ich gemerkt, dass ich innerlich auf Abwehr gehe. Der Speaker wurde eingeführt als Person, die von sich selbst sagt „Ich bin ein Liberaler – und das ist gut so“. Obwohl er immer wieder kluge Dinge sagte, denen ich eigentlich zustimme (z. B., dass ‚wir Deutschen‘ viel zu viel Angst vor Neuem (aka KI) hätten), spürte ich in mir eine ablehnende Haltung. Aufgrund anderer Aussagen, die getätigt wurden (z. B. Forderung danach, 50 % der deutschen Unis zu privatisieren), aber auch aufgrund der offensichtlichen politischen Zugehörigkeit des Speakers. Affektive Polarisierung wirkt also offensichtlich auch bei mir, die ich mich als an der Sache interessiert, als reflektierend und differenziert, rational beschreiben würde. Da viele Diskurse an dieser Schwelle der affektiven Polarisierung abdriften, ist das gesellschaftlich natürlich sehr relevant.

Bei der zweiten Keynote war das anders (Henning Strauss, CEO Strauss Deutschland): Da kam keine explizite politische Positionierung und ich konnte mich besser auf das Gesagte einlassen. Dass das so war, hat mich irritiert. Ich habe kein Parteibuch und dennoch merkte ich: Sobald ein Argument aus einem politischen Lager kommt, mit dem ich mich nicht identifiziere, bin ich skeptischer, als wenn das gleiche Argument von einer Person käme, deren politische Position mit meiner mehr übereinstimmt. Und zwar selbst dann, wenn ich das Argument teile. Ich bin mir bewusst, dass das ein klassischer Fall von confirmation bias in Kombination mit einem affektiven Priming ist. Hier greift eine Form des Messenger-Effekts: Wir bewerten Aussagen je nach Quelle unterschiedlich, selbst wenn der Inhalt gleich bleibt. Dass ich diesen Effekt bei mir selbst erkannt habe, ist unangenehm, weil ich kognitiv nicht so agieren möchte und das nicht in mein Selbstbild passt. Deshalb habe ich den Finger weiter in die Wunde gelegt.

Meine Beobachtung berührt einen der Grundpfeiler deliberativer Demokratien: die Fähigkeit, Argumente unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Gruppenzugehörigkeit zu bewerten. Wenn diese Fähigkeit verloren geht, funktioniert auch demokratische Verständigung nicht mehr gut. Dass ich mich selbst bzw. meine Reaktionen infrage stelle, ist positiv gedeutet also ein demokratischer Akt.

Ein zweites Beispiel war eine Aussage zum Thema Wissenschaftsskepsis. Im Rahmen eines Workshops nach den beiden Keynotes beklagte Prof. Jochen Maas, dass die Gesellschaft immer skeptischer gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen werde. Das ist eine Diagnose, die ich grundsätzlich teile. Ich habe ähnliche Dinge selbst schon gesagt. Aber in diesem Moment regte sich in mir Widerstand. Warum? Weil die Aussage hier aus dem Mund eines Vertreters eines technowissenschaftlichen Unternehmens kam? Ja, bestimmt. Und weil er aus einer Perspektive sprach, die bestimmte Formen von Wissenschaft über andere priorisiert. Hätte er auch gesagt, dass die Gesellschaft wissenschaftliche Erkenntnisse mehr rezipieren und ernstnehmen müsste, wenn es sich um geistes-/sozialwissenschaftliche Forschung handeln würde? Und: Ist es wirklich Wissenschaftsskepsis, wenn Menschen bestimmten Entwicklungen kritisch gegenüberstehen, z. B. aus ethischen Gründen?

Ich identifiziere mich als Wissenschaftlerin und dennoch regt sich bei mir Widerstand, wenn „Wissenschaft“ pauschal ins Feld geführt wird, um Autorität zu beanspruchen, wenn dabei aber der existierende disziplinäre Pluralismus ignoriert wird. Eine Differenzierung zwischen verschiedenen disziplinären Perspektiven ist m. E. zentral für einen epistemisch integren Wissenschaftsbegriff. Was ich kritisiere, ist also nicht der Appell an Wissenschaftlichkeit an sich, sondern der verkürzte Appell, der implizit voraussetzt Wissenschaft = naturwissenschaftlich-technisch = objektiv = richtig, während andere Perspektiven marginalisiert werden.

Ich spüre Unbehagen, wenn „Wissenschaftsskepsis“ kritisiert wird, ohne dabei zu reflektieren, welche Wissenschaftsskepsis gemeint ist – und ob es sich nicht eher um eine kritische Öffentlichkeit handelt, die sich gegen die Kommerzialisierung von Wissenschaft, gegen Greenwashing oder gegen epistemische Monokulturen wendet. Das ist keine Wissenschaftsfeindlichkeit, sondern, wenn gut begründet, ein demokratisches Korrektiv. Ich denke, es gibt ein legitimes Bedürfnis, zwischen epistemischer Skepsis und wissenschaftsfeindlicher Ideologie zu unterscheiden. Das erste ist produktiv, das zweite gefährlich.

Ich ertappte mich also dabei, wie ich eine Aussage kritisierte, obwohl ich sie selbst schon ähnlich formuliert hatte. Der Unterschied lag allein im Kontext. Und das hat mich beschäftigt. Denn wenn schon ich, die keiner Partei angehört, so auf politische Rahmungen reagiere: Wie schwer muss es dann erst für Menschen sein, die sich stärker mit einer bestimmten Partei identifizieren als diese ‚nur‘ zu wählen? Wie gelingt dann überhaupt noch ein parteiübergreifender Diskurs?

Was passiert mit überparteilichem Konsens, wenn selbst Aussagen, die lagerübergreifend geteilt werden könnten, reflexartig abgelehnt werden, sobald sie aus dem Mund einer Vertreterin der gegnerischen Partei kommen? Wohin führt dieses Symptom einer postfaktischen Fragmentierung, in der das Wer sagt es? zunehmend das Was wird gesagt? überlagert?

Prof. Maas, der sich über Wissenschaftsskepsis beklagte, sagte am Ende, dass wissenschaftliche Inhalte nicht in ein eigenes Forschungs-Ressort in ZEIT, FAZ & Co. gehören, sondern auf die Seite „Blick in die Welt“. Wissenschaft habe so viel spannendere Geschichten zu erzählen als „irgendwelche europäischen Königshäuser“. Es gab Gelächter aus dem Publikum und viel Nicken – auch von mir.

Schule als Labor: Ein Blick auf KI, Prüfungen und die Zukunft des Lernens

In der letzten Sitzung des Think Tanks „Prüfungswesen und Hochschultransformation im Kontext von KI“, den Andreas Giesbert und ich leiten, hatten wir diese Woche einen recht prominenten Gast: den Lehrer und Bildungsinfluencer Bob Blume. Das Thema war „Schule als Labor“ und wir diskutierten intensiv über die Auswirkungen von KI auf Schulen und Hochschulen, innovative Prüfungsformate und die Integration von KI in schulische Arbeiten.

Bob Blume stellte in seinem Input die Frage in den Raum, wie wir die Diskrepanz zwischen Lernen und Prüfungen verringern können. Anstatt zu fragen, wie wir KI unbedingt in Klassenarbeiten einsetzen können, weil man das jetzt ‚halt einfach so macht‘, sollten Lehrende sich darauf konzentrieren, wie sie Lern- und Prüfungswelt miteinander verbinden können. Was an Schulen sicher noch ein größeres Thema ist als an Hochschulen (wobei, wirklich?), ist dabei das Thema des Ausprobierens und mutigen Voranschreitens. Bob sagte: „Alle wollen, dass man mutig wird, aber wenn man mutig ist, werden alle panisch“. Er präsentierte ein konkretes Beispiel aus einer 10. Klasse: Seine Schüler:innen sollten, nachdem sie die Aufgabe der Klassenarbeit gelesen hatten, überlegen, welcher Prompt am besten zur Beantwortung der Frage geeignet wäre, und dann im Plenum über die besten Prompts diskutieren. Anschließend gab Bob den ausgewählten Prompt in ein KI-Tool ein und spielte das Ergebnis der gesamten Klasse zurück. Jede:r Schüler:in sollte dann einen eigenen Text zur Aufgabe erstellen und dabei die Ergebnisse des KI-Generates einbeziehen. Schulleitung und Eltern wurden im Vorfeld informiert und die Arbeitszeit wurde leicht verlängert, um die Prompt-Erstellung und Diskussion zu ermöglichen.

Der Fokus der Bewertung lag dann nicht auf dem Vorwissen, sondern darauf, wie die KI-Ergebnisse eingebunden wurden. Die Learnings: Trotz gleicher KI-Nutzung gab es unterschiedliche Leistungen – die Individualität blieb also erhalten, und die Verteilung der Leistungen war relativ ‚normal‘. Bob argumentierte, dass eine Leistungsmessung mit KI sogar valider und objektiver sein kann als bei klassischen Prüfungen, da sie misst, wer am besten mit den zur Verfügung gestellten Informationen umgehen kann. Er betonte auch, dass es sich nach wie vor lohnt, aktiv am Unterricht teilzunehmen, da dort das Vorgehen eingeübt wird. Bob schloss seinen Input damit, dass die häufig gestellte Frage, wie wir Täuschungen durch KI verhindern können, die falsche sei. Die Nutzung von KI sei zwar ‚nett‘, aber das wahre Potenzial von KI liege in der Co-Autorschaft, die den traditionellen Unterricht infrage stellt.

Als Überleitung zur Diskussion im Plenum stellte Bob die Frage, inwiefern sich die gesammelten Erkenntnisse verallgemeinern, skalieren und auf andere Fächer oder Institutionen übertragen lassen. Zunächst sprachen wir dann über individualisierte Lernansätze: Bob fragt seine Schüler:innen z. B. nach ihren Interessen und lässt sie dann  Relativsätze zu Taylor Swift oder Hobby Horsing üben, die er mit KI generierte, anstatt nur die ‚schnöden‘ Übungssätze aus dem Schulbuch zu nehmen. Das macht das Lernen relevanter. Gleichzeitig findet eine Verschiebung der Beurteilungskriterien statt: Wie auch bei Asterix bei den Olympischen Spielen sind nun nicht plötzlich alle Einser-Kandidat:innen, nur weil alle KI als ‚Zaubertrank‘ zur Verfügung haben. Die Beurteilungskriterien verschieben sich hin zum Umgang mit dem Material: Auch im ‚echten‘ Leben außerhalb der Schule geht es darum, wie wir mit den uns zur Verfügung stehenden Informationen umgehen. Prüfungen bekommen dadurch also eine lebensrelevante Funktion.

Bob äußerte eine große Sorge davor, dass KI die Abkopplung von schulischem und hochschulischem Lernen vom individuellen Leben weiter katalysiert, womit der Verlust von mehr als nur dem Kompetenzerwerb droht. Die Fähigkeit, mit KI-generierten Informationen umzugehen und sie zu beurteilen, wird im Laufe einer langjährigen Sozialisation erworben und kann daher nicht ‚outgesourced‘ werden. Unsere Generation, die in der Buchkultur sozialisiert wurde, versteht, dass es Aufwand bedeutet, Erkenntnisse zu generieren. Was aber ist mit denjenigen, die in unserer aktuellen „Sofortness“-Kultur aufwachsen?

Ein wichtiger Aspekt war auch der Mut zum produktiven Scheitern: Die aktuelle Situation ist überwältigend, und wir brauchen Mut zum produktiven Scheitern, was in der Verwaltung oft noch nicht angekommen ist. Viele verfallen in Schockstarre aus Angst vor Konsequenzen. Die Reaktion auf Disruption innerhalb von Systemen erfolgt oft systeminhärent. Deshalb müsste systemisch ermöglicht werden, das System auch ‚unterwandern‘ zu dürfen – im Sinne einer „brauchbaren Illegalität“, die als Aushandlung von Graubereichen verstanden wird.

Die Haltung der Studierenden und Lehrenden spielt ebenfalls eine zentrale Rolle: Lernende brauchen eine Haltung des Interesses und des Wollens und Lehrende eine Haltung als Lernbegleitende. Aktuell sei es aber viel zu oft so, dass Studierendenzentrierung zwar proklamiert wird, es aber dann doch die Lernenden sind, die sich anpassen sollen. Eine Teilnehmerin stellte die provokative Frage, ob wir Lehrende nicht auch einfach ein wenig neidisch seien auf die heutigen Schüler:innen bzw. Studierenden, die so viel Unterstützung erfahren wie nie und daher mit Leichtigkeit lernen können. Daraus entbrannte eine Diskussion darüber, ob Lernen anstrengend sein muss oder nicht und ob es Spaß machen darf oder nicht. Entscheidend ist wohl, dass dann, wenn das zu Lernende als bedeutsam erachtet wird, auch die Bereitschaft da ist, sich anzustrengen.

Abschließend wurde über die Notwendigkeit von Wissenschaftskommunikation gesprochen, damit Erkenntnisse dort ankommen, wo sie wirksam werden, um die ‚Bubble‘ zu durchbrechen. Dazu gehört auch, sich nicht nur darüber Gedanken zu machen, wie ein wirksames, lernförderliches Co-Teaching zwischen Mensch und Maschine aussehen kann, sondern auch über De-Implementierung nachzudenken: Welche alten Praktiken und Wissensbestände haben ausgedient und können daher von den Lernplänen gestrichen werden, um Platz für Neues zu schaffen?