„Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ Dieses Zitat wird häufig Konrad Adenauer zugeschrieben, allerdings ist (wie sogar ChatGPT ‚weiß‘) nicht eindeutig belegt, dass er diese Worte genau so gesagt hat. Ob das Zitat nun von unserem ersten Bundeskanzler stammt oder von jemand anderem: Dass man seine Meinung ändern sollte, wenn neue Erkenntnisse oder Gegebenheiten dies erfordern, ist wohl so. Und so frage ich mich gerade, ob auch ich angesichts der rasanten KI-Entwicklungen eine Meinung ändern muss.
Noch bis letzte Woche hätte ich gesagt, dass Kollaborationskompetenz (und zwar in diesem Kontext nicht Kollaboration mit KI, sondern mit unseren Mitmenschen) eine sehr wichtige Kompetenz im aktuellen und künftigen Arbeitsleben ist. Die Welt wird immer komplexer und vernetzter, weshalb Einzelne für Erfolg zwangsläufig in Teams zusammenarbeiten müssen. Nicht nur in der freien Wirtschaft, sondern auch in der Forschung ist Kollaboration sehr wichtig, da auch wissenschaftliche Fragestellungen immer komplexer und zunehmend auch interdisziplinär bearbeitet werden. Kollaborationskompetenz ermöglicht es hier, Wissen und Perspektiven effektiv zusammenzubringen, gemeinsam innovative Lösungen zu entwickeln und die Qualität der Forschungsarbeiten zu steigern.
Seit dieser Woche bin ich nicht mehr ganz so vehement in meiner Meinung, dass Kollaborationskompetenz eine der top Skills ist. Der Professor of Advanced Technology Transitions an der Arizona State University Andrew Maynard hat mithilfe von Open AIs Deep Research in vier Tagen eine komplette Dissertation im Umfang von 400 Seiten geschrieben. Er kommentiert seinen Versuch u.a. wie folgt: “To be very clear, this is not a PhD dissertation — AI isn’t there yet. But it is frighteningly close, and in some respects this document exceeds the depth, breadth and insight that many human-written dissertations demonstrate”. Ja, vielleicht ist KI noch nicht ganz da, dass ‘sie‘ alleine eine 400-seitige, qualitativ hochwertige Dissertation erstellen kann. Aber KI ist hier schon sehr, sehr weit und so kann ein einzelner Mensch alleine mit KI-Unterstützung herausragende Forschung betreiben. Ich unterhielt mich darüber diese Woche mit Doris Weßels, die davon sprach, dass Menschen in diesem Kontext zunehmend zu ‚Forschungsmanagenden‘ werden, die die Arbeiten verschiedener KI-Assistenten (bzw. KI-Agenten) „orchestrieren“ und deren Arbeit dann unter ihrem Namen veröffentlichen. Jede von uns kann damit zur ‚Super-Forscherin‘ werden. Ich brauche keine Forschungsgruppen mehr, sondern kann alleine zum akademischen Superstar werden. Wird dies zu einer ‚Raketenstimmung‘ in sämtlichen Disziplinen führen? Und wenn ja, kann das gutgehen?
Wissenschaft wird ja eigentlich immer als etwas beschrieben, das ein kollaboratives Unterfangen ist. Das Bild des einsamen Forschers (kein generisches Maskulinum!) in seinem stillen Kämmerlein hat schon lange ausgedient und kann höchstens noch als patina-behaftete Kitsch-Romantik-Kulisse für historische Romane herangezogen werden. Die Frage ist nun, ob wir durch KI wieder dorthin kommen? Ich bin weit davon entfernt, hier irgendeine fundierte Meinung zu präsentieren – die Frage drängt sich angesichts der immer weiter und immer schneller fortschreitenden Entwicklung aber auf … Außerdem stellt sich dann die Frage, wie man auf eine solche Tendenz zur Vereinzelung wiederum in der Hochschullehre reagieren soll. Der Austausch mit anderen ist zentral für das Lernen – wird dies in naher oder ferner Zukunft durch den bloßen Austausch mit KI ersetzt? Insgesamt ruckelt sich die Hochschullehre m. E. aktuell in der neuen KI-Realität zurecht. Die Prämissen dieser neuen Realität sind aber oftmals noch die von Anfang 2023, als ChatGPT gerade ganz neu war und mit seiner disruptiven Kraft hochpotent schien. Wie lange braucht es, bis die Realität des heutigen, tagesaktuellen Potenzials von KI in der Lehre angekommen ist? Bis sich Lösungen herausgebildet haben, wie man didaktisch am besten darauf reagiert?
Meine Chefin Imke Kimpel prägte neulich eine Analogie, die ich großartig fand und deshalb hier wiedergeben möchte: „Während die kleineren hochschuldidaktischen Temperaturschwankungen der Vergangenheit (inverted classroom beispielsweise) zu keinem anhaltenden Klimawandel geführt haben, sind wir jetzt […] mittendrin.“ Und vielleicht sollten wir uns nicht nur fragen, wie heiß der hochschuldidaktische Klimawandel wird, sondern ob nicht auch in der Forschung selbst ein solcher Klimawandel im Gange ist. Während in der Vergangenheit das Forschen als kollektives, interdisziplinäres Unterfangen zelebriert wurde, könnte die zunehmende Integration von KI in wissenschaftliche Prozesse zu einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel führen. Wenn einzelne Forschende mithilfe von KI-Assistenten Arbeiten von bislang unerreichter Tiefe und Qualität erstellen können, stellt sich die Frage, inwiefern die Forschung dadurch individualistischer wird.
Interessanterweise könnte diese Entwicklung nicht nur die Art, wie wir forschen, verändern, sondern auch, was wir als ‚Wissen‘ und ‚Expertise‘ definieren. Die Vorstellung, dass Wissen im Diskurs und in der Auseinandersetzung zwischen Individuen entsteht, könnte durch das Bild ersetzt werden, dass Wissen zunehmend durch die Interaktion mit KI-Systemen generiert wird. Bedeutet das, dass der wissenschaftliche Diskurs selbst – der Austausch von Ideen, das Streiten um Positionen, das gemeinschaftliche Ringen um Wahrheit – an Bedeutung verliert? Oder wird er einfach in neue Formen überführt, etwa in den Dialog zwischen Menschen und KI-Systemen?
Hier schließt sich der Kreis zurück zur Individualisierung: Wird die Forschung also individualistischer oder wird sie lediglich anders? Vielleicht befinden wir uns nicht nur in einem Klimawandel der Lehre, sondern auch in einem der Forschung – und die „Erwärmung“ zeigt sich durch eine Verschiebung hin zu individuellen Arbeitsweisen, die allerdings in hohem Maße von kollektiven KI-Technologien unterstützt werden. Paradoxerweise könnte diese Form der Individualisierung sogar auf eine andere Art kollaborativ sein: Statt mit anderen Menschen zu arbeiten, arbeiten Forschende mit einer Vielzahl von KI-Agenten, die jeweils Spezialwissen einbringen und eine Art ‚unsichtbares Forschungsteam‘ bilden.
Was bedeutet das für uns? Für die Art, wie wir Wissenschaft betreiben und lehren? Ich denke, die Antwort liegt nicht in einer einfachen Rückkehr zum alten Status quo oder in der Übernahme von KI als alleinige Lösung. Vielmehr könnte die Herausforderung darin bestehen, diese vermeintliche Individualisierung als Chance zu sehen, kollaborative Prinzipien neu zu denken – sei es in der Forschung oder in der Lehre. Statt Individualisierung und Kollaboration als Gegensätze zu betrachten, könnten wir sie als zwei Seiten einer Medaille begreifen, die sich gegenseitig bedingen und bereichern.