Wie viel Konkretes steckt eigentlich hinter den doch noch recht neuen sicherheitspolitischen Diskursen in der Wirtschaft? Diese Frage drängte sich mir (und auch anderen Teilnehmenden) während des ISWA-Politikseminars „Wirtschaft und Verteidigung – Wirtschaftspolitische Herausforderungen in neuer sicherheitspolitischer Lage“ immer wieder auf, das diese Woche am Dienstag und Mittwoch in Berlin stattfand. Hier gab es zwei Tage intensive Auseinandersetzung mit einem Thema, das längst nicht mehr nur Verteidigungsexpert*innen beschäftigt, sondern zunehmend die gesamte Wirtschaft betrifft. Dadurch, dass viele Vertretende deutscher IHKen dabei waren, ging es zwar nicht zentral um das Thema „Arbeitsmarkt“ und die mich eigentlich beschäftigende Frage, wie Arbeitsleistungen für Zwecke der Verteidigung und des Schutzes der Zivilbevölkerung gedeckt werden können und was es in diesem Zusammenhang für Unternehmen zu bedenken (und vorzubereiten) gilt. Trotzdem war das Seminar für mich sehr wertvoll, um mich über den fachlichen Hintergrund der Thematik aufzuschlauen.
Das Leitmotiv der beiden Tage lässt sich knapp zusammenfassen: Die Zahl der Akteure, die sich mit Gesamtverteidigung beschäftigen, wächst. Doch der Weg von strategischer Willensbildung zu operativer Umsetzung ist weit. Strukturen entstehen, Konzepte werden entwickelt, Strategien formuliert. Aber bei den entscheidenden Fragen nach Zuständigkeiten, Schnittstellen und Koordination im Ernstfall bleiben spürbare Lücken. Besonders eindrücklich formulierte es jemand aus dem Publikum mit einem Tennisvergleich: „Für den Verteidigungsfall haben wir keinen second service.“ (Da ich selbst keinerlei Ahnung von Tennis habe, hier die Erklärung von Claude, die ich mir direkt habe ausgeben lassen: „Beim Tennis hat jeder Spieler zwei Aufschlagversuche (services) pro Punkt. […] Im Verteidigungsfall haben wir keine zweite Chance. Wenn unsere Vorbereitungen und Strukturen nicht beim ersten Mal funktionieren, gibt es keine Möglichkeit, es nochmal zu versuchen“.
Ein wiederkehrender Referenzpunkt waren die baltischen Staaten und Nordeuropa. Nicht als Folien idealisierter Vorbilder, sondern als Beispiele für eine sicherheitspolitische Kultur, die aus realer Bedrohungslage entstanden ist. Estland, Lettland und Litauen unterscheiden sich stark, teilen aber eine digitale Leistungsfähigkeit, die Deutschland teils 10 bis 25 Jahre hinter sich lässt. Cyberangriffe gehören dort fast zur Normalität, gesellschaftliche Resilienz ist politisch verankert, und selbst junge Menschen werden früh an sicherheitsrelevante Kompetenzen herangeführt. Diese Mentalität bildet den Gegenpol zu einer deutschen Debatte, in der Bedrohungsszenarien noch immer abstrakt erscheinen.
Zentraler Kritikpunkt im Seminar war die Lücke zwischen militärischer und ziviler Planung. Mit OPLAN DEU existiert ein militärischer Operationsplan, doch das zivile Pendant fehlt. Deutschland ist zwar kein Frontstaat, aber die logistische Drehscheibe Europas. Rund 90 Prozent des militärischen Transports großer Operationen laufen über kommerzielle Ressourcen. Gleichzeitig wird die Bundeswehr absehbar keine zivile kritische Infrastruktur schützen können, was wiederum Fragen aufwirft, die bislang kaum adressiert sind: Wie sichern Unternehmen im Ernstfall Personal und was passiert, wenn essentielle Berufsgruppen mobilisiert werden und abrupt fehlen?
Parallel dazu rücken hybride Bedrohungen in den Vordergrund. Sie reichen von Spionage und Sabotage bis zu Einflussnahme und Desinformation. Die Zahl der durch Störungen beeinträchtigten Flugrouten allein im Baltikum zeigt, wie konkret diese Methoden wirken. Doch der Austausch zwischen Staat und Wirtschaft bleibt schwierig, weil viele sicherheitsrelevante Dokumente unter Geheimhaltung laufen. Die entscheidende Frage lautete daher mehrfach: Wer ist für zivile Verteidigung überhaupt ansprechbar und wie sollen Unternehmen planen, wenn sie zentrale Informationen nicht kennen?
Der europäische Vergleich machte sichtbar, wie unterschiedlich Gesamtverteidigung gedacht wird. Finnland verfolgt mit seiner Comprehensive Security ein integriertes Modell, das staatliche Stellen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft systematisch zusammenführt. Schweden hat seine Strukturen nach Jahren des Abbaus reaktiviert und organisatorisch aufgewertet. Beide Länder verknüpfen militärische Fähigkeiten mit gesellschaftlicher Vorsorge. Polen steht hingegen für eine starke Militärorientierung bei gleichzeitig schwachen zivilen Krisenstrukturen. Deutschland bewegt sich dazwischen. Das Bewusstsein wächst, die Ambition ist spürbar, doch die operative Architektur bleibt fragmentiert. Eine These aus einem der Vorträge fasste das treffend zusammen: Die größte Gefahr für die Verteidigungsfähigkeit liege nicht in der Qualität der Streitkräfte, sondern in der Fragmentierung der Zuständigkeiten.
Für Wirtschaft und Verbände ergibt sich daraus eine doppelte Aufgabe. Erstens müssen Unternehmen Resilienz als unternehmerische Pflicht begreifen und sich stärker mit Sicherstellungs- und Vorsorgegesetzen, Autarkiefragen und Abhängigkeiten auseinandersetzen. Zweitens braucht es politische Klarheit. Ohne definierte Ansprechpartner, ohne abgestimmte Verfahren und ohne Transparenz entsteht im Ernstfall ein organisatorisches Vakuum. Die IHKs etwa können als Bindeglied viel leisten, doch auch dort gilt: Beratung wirkt nur, wenn der regulatorische Rahmen verlässlich ist und die Kosten realistisch kommuniziert werden.
Was vom Seminar bleibt, ist ein klarer Befund. Das sicherheitspolitische Problembewusstsein ist vorhanden, und es wird intensiv geplant. Doch der Schritt von strategischer Vision zur praktischen Handlungsfähigkeit ist noch nicht getan. Die baltischen und nordischen Beispiele zeigen, dass es dafür kein reines Aufrüstungsprogramm braucht, sondern ein gesellschaftliches Mindset und eine gelebte Sicherheitskultur. Deutschland ist in Bewegung. Entscheidend wird sein, ob wir Tempo gewinnen und die notwendige Koordination wirklich herstellen. Denn am Ende entscheidet nicht die Menge der Konzepte, sondern die Klarheit der Verantwortlichkeiten. Ansonsten bleibt die Gesamtverteidigung auf dem Papier stehen.
