Reformdruck und Realitätscheck

Wie lässt sich wirtschaftliche Stärke in Deutschland zurückgewinnen und was bedeutet das konkret für Sozialstaat, Arbeitsmarkt und Unternehmen? Diese Fragen standen im Zentrum des diesjährigen Forums Marktwirtschaft der BDA (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände). Unter dem Titel „Reform Agenda 2035 – Soziale Marktwirtschaft, Eigenverantwortung und unternehmerische Freiheit wiederbeleben“ wurden in Berlin zahlreiche Thesen zur Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands diskutiert. Für mich war das wieder einmal eine Gelegenheit, in das politische Berlin hineinzuschnuppern und vor allem auch viele neue Menschen kennenzulernen.

Los ging es am Mittwoch mit einem Vorabend, bei dem ich vom Format her große Parallelen zu Conference Dinners bei wissenschaftlichen Konferenzen gesehen habe. Die Veranstaltung war entsprechend hochkarätig besetzt: Thorsten Frei, Chef des Bundeskanzleramts, eröffnete das Forum Marktwirtschaft mit einer programmatischen Rede, nach der es dann das ‚Conference Dinner‘ gab. Frei skizzierte die aktuellen Herausforderungen von der Energiekrise über geopolitische Spannungen bis zu einer alternden Gesellschaft und stellte ihnen ein marktwirtschaftliches Leitbild entgegen: weniger Staat, mehr Anreize, mehr Freiheit für Unternehmen. Deutschland, so seine Diagnose, verliere international an Boden – nicht weil es an Subventionen fehle, sondern weil Arbeitskosten, Energiekosten und Bürokratie die Standortqualität massiv beeinträchtigten. So weit so gut, so wenig neue Erkenntnisse aber auch. Entsprechend kritisch waren die Nachfragen, entsprechend wenig wollte eine Atmosphäre von „alles wird wieder gut“ aufkommen. Was mir auf einer anderen Ebene an Freis Rede stark in Erinnerung blieb: Zum Ende hin warb er sehr dafür, die politischen Diskussionen, von denen es aktuell ja weiß Gott genug gibt, auf einer sachlichen und nicht einer persönlich-diffamierenden Ebene zu führen. Das ist eigentlich so selbstverständlich, dass man es nicht betonen müsste, leider aber immer weniger Realität. In Zeiten, in denen Politiker:innen immer stärker auf einer persönlichen Ebene angegriffen werden, war das für mich eine wichtige Mahnung/ein wichtiges Bekenntnis. Am Ende des ‚Rede-Teils‘ wies Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der BDA, noch darauf hin, dass sich die soziale Marktwirtschaft immer auch als Gesellschaftsordnung verstanden hat und mit einem klaren Bekenntnis zu Europa einherging. Auch das war für mich ein wichtiger Hinweis, gerade vielleicht auch für meine Generation, die die Blütezeit der sozialen Marktwirtschaft und alles, was damit einherging, nur aus den Geschichtsbüchern kennt.

Am nächsten Tag startete das Forum Marktwirtschaft dann offiziell. In verschiedenen Panels diskutierten zunächst Vertreter:innen von Wirtschaft, Verbänden und Wissenschaft auf dem Podium, ehe anschließend auch das Publikum mitmischen konnte. Prof. Lars Feld, ehemaliger Wirtschaftsweiser, sprach von einer schleichenden Erosion marktwirtschaftlicher Prinzipien seit 2013. Der Staat habe sich zunehmend als Krisenmanager positioniert und damit Eigenverantwortung und unternehmerische Initiative zurückgedrängt. Er forderte eine konsequente Rückkehr zur Ordnungspolitik: mehr marktwirtschaftliche Dynamik, weniger detailsteuernde Eingriffe. Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, widersprach nicht der Diagnose, wohl aber der ‚Therapie‘. Für ihn steht außer Frage, dass Reformen nötig sind – allerdings nicht auf Kosten sozialer Sicherung und Tarifautonomie. Er betonte die Rolle funktionierender Sozialpartnerschaft und sprach sich für gezielte Investitionen in Infrastruktur und Weiterbildung aus. Auch unternehmerisches Handeln, so Kerner, brauche Regeln, um fairen Wettbewerb und Beschäftigung zu sichern. Wolf Matthias Mang, Präsident der Vereinigung hessischer Unternehmensverbände, forderte schließlich eine Neubewertung von Unternehmertum in der öffentlichen Debatte. Die zunehmende Regulierung, etwa durch Lieferkettengesetze oder bürokratische Berichtspflichten, dämpfe nicht nur die Investitionsfreude, sondern signalisiere auch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber unternehmerischem Handeln. Mang plädierte für ein wirtschaftspolitisches Klima, in dem Leistung, Risikoübernahme und Innovation anerkannt und nicht durch staatliche Übersteuerung entwertet werden. Von ihm blieb mir das Zitat im Kopf hängen „Wir brauchen den Staat als Schiedsrichter, nicht als Gegenspieler und nicht als Platzwart“.

Die zweite Podiumsrunde richtete den Blick auf den Arbeitsmarkt. Unter der Überschrift „Wie gelingt eine nachhaltige Entfesselung des Arbeitsmarktes?“ wurden unterschiedliche Perspektiven auf Flexibilisierung, Eigenverantwortung und Schutzstandards deutlich. Stefan Körzell, Mitglied des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes, lehnte den Begriff der „Entfesselung“ ab – eine solche Metaphorik suggeriere, es gebe übermäßige Restriktionen. Das Problem sei weniger zu viel Regulierung als vielmehr eine strukturelle Schieflage: Industriearbeitsplätze gehen verloren, Qualifizierungsangebote greifen zu spät, und Millionen junger Menschen blieben ohne Ausbildung. Prof. Lena Rudkowski, Arbeitsrechtlerin an der Universität Gießen, kritisierte die unklare Zielrichtung vieler regulatorischer Maßnahmen. Aus ihrer Sicht wäre bereits viel gewonnen, wenn der Gesetzgeber sich bei neuen Vorgaben auf Kohärenz und Zielgenauigkeit konzentrieren würde statt auf Symbolik. Auch sie forderte bessere Bedingungen für Weiterbildung und Flexibilität in Bildungs- und Erwerbsbiografien, verwies aber zugleich auf die Grenzen pauschaler Deregulierungsforderungen. Susanne Wißfeld, Vorsitzende des Forums Marktwirtschaft, brachte eine weitere Perspektive ein: Eigenverantwortung beginne im Mindset. Viele Beschäftigte hätten nach wie vor einen „9-to-5“-Anspruch, während gleichzeitig neue Arbeitsformen (z. B. Freelancing) unter Verdacht gestellt würden. Hier zeige sich ein ambivalentes Verhältnis zu Freiheit: rechtlich gewünscht, aber praktisch misstrauisch beäugt. Für Wißfeld ist entscheidend, Eigenverantwortung nicht nur rechtlich zu ermöglichen, sondern auch kulturell zu verankern – durch Vertrauen, durch transparente Regeln, durch individuelle Gestaltungsspielräume.

In der Summe zeigte das Forum Marktwirtschaft für mich eine natürlich ideologisch grundierte (immerhin war es eine Arbeitgeberveranstaltung), gleichwohl aber differenziert geführte Debatte. Die Diskussionslinien verliefen entlang klassischer Grenzziehungen: Ordnungspolitik versus Sozialstaat, Deregulierung versus Schutzstandards, Investitionsanreize versus Steuerdisziplin. Was auffiel: Der Ruf nach mehr Marktwirtschaft wurde übergreifend geäußert, allerdings mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon, was „mehr“ konkret heißt und für wen was genau gelten soll.

Ich selbst bleibe mit vielen Eindrücken zurück. Für mich ist die Welt, in der ich mich in den letzten zwei Tagen bewegt habe, immer noch neu und ich schätze es total, solche Einblicke zu erhalten. Klingt sehr phrasenhaft, ist aber genau das, was ich empfinde.

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