Produktivität neu gedacht: Von „bussy“ zu „Slack“

Vor zwei Wochen habe ich hier darüber geschrieben, dass der Wert von KI am Arbeitsplatz nicht in ein paar eingesparten Stunden gemessen werden kann. Es geht vielmehr darum, welche neuen Aufgaben, Projekte und Kompetenzen durch KI überhaupt erst entstehen. Studien, die bloß Zahlen ausweisen, greifen zu kurz, weil sie die eigentliche qualitative Verschiebung in der Arbeitswelt übersehen.

Nun bin ich auf den aktuellen Global Human Capital Trends Report von Deloitte gestoßen, der diese Diskussion in eine interessante Richtung weiterführt. Dort geht es nicht primär um KI, sondern um ein grundlegenderes Problem: Unsere Arbeitszeit ist voll, aber nicht unbedingt sinnvoll gefüllt.

Fast die Hälfte der Befragten fühlt sich „time poor“ – zu viel zu tun, zu wenig Zeit. Sie geben an, täglich 41 % ihrer Arbeit mit Tätigkeiten zu verbringen, die keinen Wert für die Organisation schaffen. Meetings, alte Prozesse, endlose E-Mails. Das Ergebnis: Wir sind alle busy, aber nicht unbedingt produktiv.

Deloitte schlägt vor, das Konzept von „Slack“ neu zu denken: bewusste, unzugewiesene Zeit, in der Mitarbeitende frei entscheiden, wie sie ihre Kapazität nutzen. Nicht als Ausrede zum Nichtstun, sondern als Freiraum für Kreativität, Innovation und Lernen. Unternehmen wie Google oder 3M haben vorgemacht, dass genau aus solchen Freiräumen zentrale Innovationen entstehen können.

Hier schließt sich der Kreis zu meinem letzten Blogpost: KI kann Freiraum schaffen – aber nur, wenn wir diesen nicht sofort mit neuer Kleinarbeit füllen. Der eigentliche Hebel liegt darin, die gewonnene Kapazität als Slack zu begreifen, also als Raum für neue Aufgaben, für qualitatives Arbeiten, für Projekte, die Wert schaffen, den es vorher gar nicht gab.

Deloitte geht noch weiter: In einem anderen Teil des Reports wird das Employee Value Proposition (EVP) im KI-Zeitalter thematisiert. Die Grundfrage lautet: Warum sollten Menschen heute in genau diesem Unternehmen arbeiten und auch dort bleiben, in dem sie arbeiten? KI verändert die Antwort darauf fundamental, weil sie nicht nur Prozesse beschleunigt, sondern das Arbeitserlebnis selbst verändert.

Viele sehen KI inzwischen als „Kollegin“ – sechs von zehn Mitarbeitenden beschreiben sie so. Gleichzeitig zeigt sich, dass KI unbeabsichtigte, stille Nebenwirkungen haben kann: weniger Autonomie, mehr Stress, anspruchsvollere Restaufgaben, geringere Lernmöglichkeiten für Berufseinsteiger:innen, weniger soziale Interaktion. Genau das untergräbt klassische EVPs, die bislang stark auf Karrieremöglichkeiten, Vergütung und Kultur abstellten.

Ein modernes EVP muss, so Deloitte, diese Realität anerkennen und Chancen eröffnen:

  • Gewinne teilen: Wenn KI Effizienz schafft, sollten auch Mitarbeitende davon profitieren. Waste Management etwa gibt Fahrern, die KI-optimierte Routen nutzen, einen Teil der Produktivitätsgewinne direkt als Bonus zurück.
  • Work-Life-Balance ermöglichen: Das kanadische Anwaltsbüro The Ross Firm hat dank KI eine Vier-Tage-Woche eingeführt.
  • Individuelle Förderung: Amazon setzt KI-Coaches ein, die allen Mitarbeitenden kontinuierliches Feedback geben.
  • Menschliche Fähigkeiten stärken: USAA baut gezielt Kompetenzen wie Zusammenarbeit und emotionale Intelligenz ins EVP ein, weil diese durch KI noch wertvoller werden.
  • Wechselseitiges Lernen: Repsol zeigt, wie Mitarbeitende KI-Systeme mit Kontext füttern, die Systeme dadurch besser werden und gleichzeitig Menschen von den Vorschlägen der KI profitieren.
  • Wissen bewahren: Mit „Digital Doug“ hat ein Automobilunternehmen das Wissen eines wichtigen Mitarbeiters in eine KI überführt, die sein Know-how dauerhaft zugänglich macht.

Der Report beschreibt dies als Ära der Konvergenz und damit eine Zukunft, in der die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen. Technologien werden menschlicher, Schnittstellen natürlicher, und Anwendungen wie „Digital Doug“ zeigen, wie Wissen selbst über Generationen hinweg nutzbar bleibt. Daraus ergeben sich strategische Fragen: Wie gestalten wir die Zusammenarbeit so, dass beide Seiten profitieren, also Mensch und Organisation/Unternehmen? Oder anders gesagt: Wenn wir KI und moderne Arbeit nur danach beurteilen, wie viele Stunden sie uns sparen, verfehlen wir das Ziel. Die entscheidende Frage ist: Wofür nutzen wir die gewonnene Zeit – und welche Rahmenbedingungen schaffen Unternehmen, damit daraus wirklich Wert entsteht?

Laut Deloitte ist es an der Zeit, das vielzitierte Wort Produktivität neu zu definieren. Nicht mehr „Wie viel Output pro Stunde?“ sondern „Welche Qualität entsteht durch die Art, wie wir unsere Zeit gestalten?“

Ein weiterer spannender Abschnitt des Global Human Capital Trends Report beschäftigt sich mit der Frage, ob wir in Zukunft überhaupt noch Manager:innen brauchen. Immer mehr Organisationen experimentieren mit „unbossing“, d. h. der Reduktion oder Abschaffung von mittlerem Management. KI übernimmt Routinetätigkeiten, ökonomischer Druck fordert schlankere Strukturen und viele hoffen auf mehr Effizienz und Agilität durch selbstorganisierte Teams. Doch die Praxis zeigt: Ganz ohne Manager:innen geht es nicht. Menschen werden immer geführt und wenn nicht offiziell, dann durch informelle „Schattenführer:innen“.

Deloitte argumentiert daher für einen dritten Weg: die komplette Neuerfindung der Rolle. Manager:innen bleiben wichtig, aber ihre Aufgaben verschieben sich. Künftig zählen weniger Administration und Kontrolle, sondern drei Kernkompetenzen:

  1. Menschen entwickeln und coachen: Motivation, Feedback und individuelle Förderung.
  2. Arbeit neu designen: Ressourcen sinnvoll verteilen, Zusammenarbeit von Mensch und KI gestalten.
  3. Agilität und Innovation ermöglichen: Entscheidungen näher an den Kund:innen treffen, Kreativität und Problemlösung stärken.

Spannend finde ich den Fokus auf Urteilsvermögen: In einer Welt, in der KI viele klare Ja/Nein-Aufgaben übernehmen kann, wird das menschliche Gespür für Zwischentöne, Kontext und Empathie zur zentralen Fähigkeit. Genau dieses Judgment ist schwer skalierbar und macht den Unterschied aus.

Praktische Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Rolle bereits interpretiert wird:

  • Bei Telstra in Australien wurde das Manager:innenprofil aufgespalten – in „Leader of People“ (Coaching, Entwicklung) und „Leader of Work“ (Projektsteuerung).
  • Bei Michelin wandelte sich der:die Werkleiter:in von der Entscheiderin zur Mentorin, was nicht nur die Kultur stärkte, sondern auch nachweisbar zu hunderten Millionen Euro Effizienzgewinnen führte.
  • Und bei Handu Group in China entstand ein Modell, in dem kleine, autonome Teams mit Unternehmergeist agieren – Manager:innen hier als Enabler, nicht als klassische Chefs.

Für mich passt das gut zur Diskussion rund um KI: Während Maschinen Prozesse beschleunigen und vereinfachen, wird die menschliche Rolle qualitativer. Führung bedeutet in Zukunft weniger „Verwalten“ und mehr „Gestalten“.

In diesem Kontext möchte ich auch noch die Erkenntnisse einer weiteren Studie teilen, die ich diese Woche gelesen habe: Die von McKinsey veröffentlichte Studie Superagency in the Workplace: Empowering People to Unlock AI’s Full Potential untersucht, wie Unternehmen den Einsatz von KI so gestalten können, dass Menschen nicht ersetzt, sondern befähigt werden. Für mich ist dies eine der besten, kompaktesten und umfassendsten Studien zu dem Thema. Wenn es nach mir ginge, wäre sie Pflichtlektüre für alle Arbeitskräfte in diesem Land 🙂

Kernbegriff ist dabei der Begriff „Superagency“: ein Zustand, in dem Menschen durch KI ihre Kreativität, Produktivität und ihren positiven Impact vervielfachen. Selbst diejenigen, die KI nicht direkt nutzen, profitieren von den Effekten: besserer Zugang zu Wissen, höhere Effizienz, neue Innovationsmöglichkeiten.

Die Studie zeigt:

  • Mitarbeitende sind oft weiter als ihre Führungskräfte glauben. Sie setzen KI schon heute dreimal so intensiv ein, wie das Management annimmt.
  • Training ist entscheidend. 48 % der Befragten sehen Weiterbildung als wichtigsten Faktor für die Einführung von KI, fühlen sich aber unzureichend unterstützt.
  • Führung bleibt die größte Hürde. Nur 1 % der Unternehmen sieht sich heute auf einem „reifen“ KI-Niveau; das Haupthindernis ist nicht Technologie, sondern fehlende Führungsambition.
  • Speed vs. Safety. Fast die Hälfte der Führungskräfte hält die Einführungsgeschwindigkeit für zu langsam. Gleichzeitig bleibt Sicherheit (Bias, Datenschutz, Halluzinationen) ein zentrales Thema.
  • Big Ambitions. Unternehmen, die KI mutig als transformatives Werkzeug einsetzen – etwa in Pharma, Energie oder Bildung – können Branchen und Geschäftsmodelle grundlegend neu gestalten.

Ich habe mir dazu jedenfalls gleich das Buch Superagency: What Could Possibly Go Right with Our AI Future von Reid Hoffman und Greg Beato bestellt und bin sehr gespannt darauf, wie die dort entwickelte Vision das Bild noch weiter ergänzt. Ich werde von meiner Lektüre berichten.

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Ich, Dr. Isabella Buck (Wohnort: Deutschland), verarbeite zum Betrieb dieser Website personenbezogene Daten nur im technisch unbedingt notwendigen Umfang. Alle Details dazu in meiner Datenschutzerklärung.
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