Lesen & genKI: Tiefgang statt Schnelldurchlauf

Letzte Woche schrieb ich über die intensive Arbeit an meinem Lehrbuch über generative KI und wissenschaftliches Schreiben. Dabei ist mir wieder mal bewusst geworden, wie wichtig der Prozess des Schreibens für das Verstehen ist. Diese Woche möchte ich über ein anderes, ebenso grundlegendes Thema nachdenken: Lesen und Lesekompetenz im KI-Zeitalter. Wie verändert sich unser Umgang mit Texten, wenn KI-Tools uns Zusammenfassungen in Sekundenschnelle liefern? Ist das die Zukunft des Lesens und droht uns dann ein Verlust an Tiefe und kritischem Denken? Und vor allem: Wie motivieren wir Studierende, sich trotz der Verfügbarkeit von KI-Lesehilfen weiterhin aktiv mit Texten auseinanderzusetzen? Dass ich mich heute mit diesem Thema beschäftige, liegt an der aktuellen Ausgabe des Newsletters AI x Education, der dazu verschiedene Links zusammengetragen hat. Im Blogartikel vom 19.07.2024 habe ich auch schon über das Thema ‚Lesedidaktik & KI‘ geschrieben; dennoch erscheint es mir angesichts weiterer aktueller Entwicklungen sinnvoll, das Thema nochmals aufzugreifen.

Die Verlockung des effizienten Arbeitens ist groß. KI-gestützte Lesehilfen wie der „EPS Reading Assistant“, in den das Iowa Department of Education 3 Millionen Dollar investiert hat, versprechen personalisiertes Lesetraining und schnellere Lernerfolge. Selbst für komplexe wissenschaftliche Texte gibt es KI-Tools, die Zusammenfassungen und Analysen liefern – in aller Munde ist seit einigen Wochen ja Googles LM Notebook, das wissenschaftliche Paper in Podcasts transformiert und nun ein weiteres Update erfahren hat. Für Studierende, die unter Zeitdruck stehen und mit einer Flut an Lesestoff konfrontiert sind, wirken KI-Zusammenfassungen wie eine willkommene Abkürzung. Prozesse des Close Reading gehen dabei jedoch verloren – und somit auch deren positive Effekte für das menschliche Lernen. Es stellt sich also die Frage, worum es beim Lesen wissenschaftlicher Texte geht. Nur darum, möglichst schnell Informationen zu extrahieren, um seinem Literaturverzeichnis einen weiteren Eintrag hinzufügen zu können? Marc Watkins warnt davor, dass dann, wenn Studierende sich an vorgefertigte Zusammenfassungen gewöhnen, ihre Fähigkeit verkümmert, Texte kritisch zu hinterfragen, verschiedene Perspektiven einzunehmen und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Außerdem sieht er so die Gefahr, dass wir eine Kultur der Oberflächlichkeit heranzüchten, in der komplexe Themen auf einfache Zusammenfassungen reduziert werden. In einer solchen Welt, in der Autoritätsgläubigkeit gegenüber KI-generierten Inhalten zunimmt, könnten sich Fehlinformationen und manipulative Narrative ungehindert verbreiten. Philippa Hardman schreibt dazu: „One thing that we’re reminded of here is that, while generative AI tools undoubtedly enhance access to information, they also actively “intervene” in the information-sharing process, actively shaping the type and depth of information that we receive, as well as (thanks to changes in format and tone) its meaning.“

Die Herausforderung besteht darin, Studierenden zu zeigen, dass Lesen mehr ist als Informationsaufnahme. Es geht darum, sich mit den Gedanken anderer auseinanderzusetzen, den eigenen Horizont zu erweitern, kritisch zu denken und die eigene Stimme zu finden. Mein Gefühl ist, dass es uns als Hochschulen jetzt auf die Füße fällt, dass die Begleitung studentischer Leseprozesse in der Vergangenheit oft so stiefmütterlich behandelt bzw. schmerzlich vernachlässigt wurde. Wenn ich auf mein eigenes Studium zurückblicke, gab es zwar Kurse zum wissenschaftlichen Schreiben – mit dem Lesen der ganzen schwierigen Fachtexte wurde ich aber alleine gelassen. Wie oft hatte ich das Gefühl, einfach nicht ‚intelligent‘ genug zu sein, wenn ich in den ersten Semestern wieder einmal ganze Absätze nicht verstanden habe? Dass auch gestandene Wissenschaftler:innen Forschungsliteratur nicht einfach ‚mal eben‘ durchlesen, hätte ich nie gedacht. Insofern wundert es mich auch nicht – und ich hätte es als Studentin vermutlich ebenso gemacht, hätte ich damals Zugriff auf KI-Tools gehabt -, dass viele Studierende sich einfach nur Zusammenfassungen der zu lesenden Texte generieren lassen, anstatt den Anspruch zu haben, die Texte selbst zu durchdringen.

Wie wird es damit weitergehen? Ich argumentiere dafür, dass wir dringend eine in den Fachwissenschaften verankerte lesedidaktisch informierte (schlechte Eindeutschung eines englischen Begriffes, ich weiß …) Thematisierung des Lesens wissenschaftlicher Texte brauchen. In diesem Rahmen sollten selbstverständlich auch KI-Tools zum Einsatz kommen; gleichzeitig sollten Studierende aber auch um den Wert sowie um die Mühen des wissenschaftlichen Lesens erfahren. Anfang letzten Jahres, der KI-Hype hatte noch nicht richtig Fahrt aufgenommen, habe ich an der TU Braunschweig ein Seminar für Lehrende zum Umgang mit Forschungsartikeln in Lehrveranstaltungen gegeben. Alle Teilnehmenden hatten eingangs berichtet, dass sie bislang zu ihren Studierenden immer nur gesagt haben „lesen Sie den Text X bis nächste Woche“ – ohne Unterstützungsleistung, ohne konkreten Arbeitsauftrag. Ich selbst habe es in meiner Lehre früher auch so gemacht und mich dann gewundert, weshalb niemand den Text gelesen hatte. Und wenn das ohne KI schon so war, wie ist es dann nur mit KI …?

Konkret stellt sich hier die Frage, wie wir Studierende trotz der Verfügbarkeit von KI-Lesehilfen zur aktiven Auseinandersetzung mit den Texten motivieren. Soziale Annotationstools, wie Hypothesis oder Perusall, ermöglichen den Studierenden, gemeinsam Texte zu lesen, sich über ihre Interpretationen auszutauschen und so voneinander zu lernen. Auch der Einsatz von KI kann hier sinnvoll sein: „Rebind“, eine digitale Plattform mit interaktiven E-Books, zeigt, wie KI das Lesen bereichern kann, indem sie zusätzliche Informationen und Expertenkommentare bereitstellt. Anstatt das Lesen vermeintlich zu beschleunigen, sollte durch geeignete KI-Tools die ‚Reibung‘ im Leseprozess bewusst erhöht werden, um die intensive Auseinandersetzung mit Texten zu fördern.

Das Institute of Education Sciences (IES) hat kürzlich vier neue nationale Forschungs- und Entwicklungszentren (R&D Centers) ins Leben gerufen. Diese Zentren sind Teil einer Initiative namens „Using Generative Artificial Intelligence to Augment Teaching and Learning in Classrooms“, kurz U-GAIN. Zu diesen neuen Zentren gehört das U-GAIN Reading Center, das sich darauf konzentriert, generative KI zur Verbesserung des Leseunterrichts in Grundschulen einzusetzen und dabei etablierte Leseforschung berücksichtigen. Ich finde diesen Ansatz sehr spannend und finde es toll, dass der Fokus so dezidiert auf das Entwickeln einer Lesepraxis gerichtet wird, die Erkenntnisse der Leseforschung mit den Vorteilen von generativer KI kombiniert. Nun ist das Lesen in der Grundschule natürlich etwas ganz anderes als das Lesen an Hochschulen. Ich finde aber, dass das ein lohnender Ansatz auch für die hochschulische Lesedidaktik ist, die hoffentlich durch generative KI Aufschwung erlebt und nicht komplett ausgelöscht wird …