Nach einer ordentlichen Brise Nordseeluft und einigen Tagen Abstand zur Bildschirmwelt (daher auch die Pause des Blogs) hatte ich Mitte der Woche einen frischen Kopf, um mich in das 246 Seiten lange Konvolut zu AI Agents von insgesamt 48 Autor:innen einzulesen, auf dessen Lektüre ich sehr gespannt war.
Unter dem Titel „Advances and Challenges in Foundation Agents: From Brain-Inspired Intelligence to Evolutionary, Collaborative, and Safe Systems“ etablieren die Autor:innen das menschliche Gehirn als Inspirationsquelle für die systematische Analyse und das Design von agentischen Frameworks. Im Gegensatz zu klassischen Definitionen von KI-Agenten packen Liu et al. zwischen „perception“ und „action“ von Agenten noch die Dimension „cognition“ und kommen damit zu folgender Definition von KI-Agenten: „A Foundation Agent is an autonomous, adaptive intelligent system designed to actively perceive diverse signals from its environment, continuously learn from experiences to refine and update structured internal states (such as memory, world models, goals, emotional states, and reward signals), and reason about purposeful actions—both external and internal—to autonomously navigate toward complex, long-term objectives“.
Sehr weit bin ich noch nicht gekommen, wie ich zugeben muss – ich bin erst auf Seite 30. Ich bin dabei an einem Satz hängengeblieben und möchte meine Gedanken dazu hier schreibend ordnen. Der Satz steht auf S. 16:
„The goal of AI should not be to replace human roles entirely, but rather to augment and empower human abilities, complementing human skills and judgment in areas where AI excels.“
„KI soll unterstützen, nicht ersetzen“, das hört man ja ständig im KI-Diskurs. Aber hier war es für mich anders, weil hier das Verb „empower“ verwendet wird. Es geht also darum, dass KI unsere Fähigkeiten bestärken soll. Das ist inmitten der ganzen Deskilling-Diskussionen eine radikal andere Perspektive. Kein De-Skilling, kein Re-Skilling, kein Up-Skilling, sondern eine Stärkung unserer menschlichen Fähigkeiten.
Ich werde ja nicht müde, in alle KI-Diskussionen einzubringen, dass genKI unser Denken erweitern kann, indem sie neue Perspektiven aufzeigt, Ideen verknüpft, uns aus gewohnten Denkbahnen herauslockt (prominent beschrieben in Buck/Limburg 2025). Das werde ich auch weiterhin tun. Der Text zu KI-Agenten hat für mich aber nochmals einen neuen Ton angeschlagen: KI nicht nur als Sparringpartnerin oder Denktutorin, sondern als verstärkender Spiegel unserer Stärken. KI als Entität, die nicht einfach Aufgaben übernimmt, sondern auch deutlich macht, wo mein eigenes Denken bereits gut funktioniert. Wo ich präzise argumentiere. Wo meine Urteilsfähigkeit greift. Wo ich Struktur erkenne. Wo ich meine menschlichen Fähigkeiten geschickt ausspiele.
Empowerment meint für mich hier nicht das Zurverfügungstellen von Fähigkeiten, die ich nicht habe, sondern das bewusste Rückspiegeln meiner menschlichen Fähigkeiten – kognitive, kreative, soziale etc. –, damit ich sie überhaupt erst erkennen, würdigen und weiterentwickeln kann. Diese Perspektive ist nicht nur wohltuend, sie ist auch radikal: Denn sie stellt die Idee in Frage, dass KI zwangsläufig zur Verdrängung menschlicher Arbeit führt. Stattdessen kann eine solche Perspektive das gemeinsame Lernen in den Fokus rücken: eine Art Ko-Evolution von Mensch und Maschine, bei der der Mensch nicht kleiner wird, sondern größer.
Gerade für Bildungskontexte empfinde ich das als sehr fruchtbare Perspektive (ohne jedoch in Technikgläubigkeit und bloße Technikeuphorie zu verfallen). Wenn wir über De-Skilling reden, geht es nicht nur darum, was ich nicht mehr tue, sondern auch darum, wie ich meine Fähigkeiten wieder ernst nehme und weiterentwickle. KI kann dafür ein Impulsgeber sein. Nicht indem sie übernimmt, sondern indem sie herausfordert, anregt, zurückmeldet. Und stärkt.
Vielleicht liegt genau darin ein zentrales Potenzial: KI als Raum, in dem menschliche Kompetenzen sichtbar, reflektierbar und damit entwickelbar werden. Die Frage ist ja längst nicht mehr, ob wir KI im Bildungsbereich nutzen, sondern wie bewusst wir diesen Raum gestalten. Es reicht nicht aus, KI punktuell zur Kompetenzentwicklung einzusetzen, sondern KI kann selbst den Raum für Kompetenzentwicklung schaffen. Wenn wir ernst nehmen, dass Lernen immer auch Persönlichkeitsentwicklung ist, dann sollten wir KI als integralen Teil dieses Prozesses denken – als ein Gegenüber, mit dem ich mich als Mensch entfalten kann. Das bedeutet nicht, die Technologie zu verklären. Aber es heißt, sie so einzusetzen, dass sie mich nicht begrenzt, sondern herausfordert, mich nicht ersetzt, sondern mit mir mich ko-evolviert. In einem Lernraum, in dem meine Fähigkeiten nicht standardisiert, sondern sichtbar, reflektierbar – und eben entwickelbar – werden. Das ist Chance und Herausforderung zugleich, um wieder bei dieser wunderbar phrasenhaften Floskel zu landen, die man aktuell wohl über die meisten KI-Diskurse im Bildungsbereich stülpen kann.
Wenn wir mit KI arbeiten, haben wir es zunehmend mit einem zweiten Denkraum zu tun – oder, um es bildhafter zu sagen: mit einem zweiten Gehirn. Ich habe mein eigenes, menschliches Denken, das durch Erfahrung, Emotion, Intuition geprägt ist. Und ich habe Zugriff auf ein weiteres, ein maschinelles – eines, das anders strukturiert ist, anders operiert, aber dennoch anschlussfähig wird an meine Denkprozesse (wie Liu et al. in ihrem Artikel aufzeigen). Ich weiß noch nicht genau, wie sich das langfristig ausformen wird und mir fehlt auch noch viel an konkreten Vorstellungen. Dennoch glaube ich, dass wir uns auf eine Realität zubewegen, in der es nicht mehr nur um mein Denken geht, sondern um das Zusammenspiel zweier kognitiver Systeme.
Ich habe noch 218 Seiten des Monster-Papers vor mir und bin gespannt, wo ich mich gedanklich noch festbeißen werde. Vielleicht nutze ich diesen Blog ja abermals als Denkraum (zusammen mit KI, denn die Gedanken dieses Artikels habe ich im Voraus schon mit ChatGPT grob durchgearbeitet).
Zuletzt noch eine Lektüreempfehlung aus einer ganz anderen Ecke: Als Freizeitlektüre beschäftigt mich aktuell das Buch „Zusammenkunft“ von Natasha Brown. Sprachlich und formal sehr eindrucksvoll, inhaltlich sehr beklemmend. Es geht um eine schonungslose Auseinandersetzung mit Rassismus, gesellschaftlichen Erwartungen und dem ständigen Druck, sich anzupassen, immer mehr leisten zu müssen als die anderen. Die SZ beginnt den Teaser zu einer Rezension dieses Buches mit „Über das mächtige Märchen von der sozialen Mobilität“, was sehr passend ist. Auch hier fehlen mir noch ein paar Seiten bis zum Ende des Buches – diese werde ich aber definitiv schneller gelesen haben als die restlichen Seiten des Papers von Liu et al. … Und damit ein schönes Wochenende!