Future Skills als Gegenwartssache – eine Replik

Letzte Woche hatte ich die große Freude, zum ersten Mal einen Gastbeitrag auf diesem Blog zu veröffentlichen. Lavinia Kamphausen stieß darin die Frage nach dem Hier und Jetzt im Kontext von Hochschulentwicklungsdiskursen an und kritisierte die in diesem Bereich allenthalben grassierende Ausrichtung an der Zukunft, über die bisweilen die Gegenwart gänzlich aus dem Blick gerät. Umso mehr freue mich, heute meine Perspektive auf den Gastbeitrag zu teilen und einige Punkte aufzugreifen, die mir besonders am Herzen liegen.

Der Gastbeitrag beginnt mit der Feststellung, dass wir, trotz aller Zukunftsplanung, das Jetzt nicht aus den Augen verlieren sollten und dass die Herausforderungen der Gegenwart uns ebenso viel, wenn nicht sogar mehr, über nützliche Kompetenzen lehren als mögliche Zukünfte. Eine These, der ich im Kern absolut zustimme: Die Gegenwart ist unser Handlungsraum, der Ort, an dem wir existieren, lernen und agieren. Es ist unbestreitbar, dass die Unmittelbarkeit der heutigen Probleme – sei es die Finanzierung der Hochschulen, prekäre Arbeitsverhältnisse oder die mentale Gesundheit Studierender – unsere volle Aufmerksamkeit verlangt und uns bereits enorme Flexibilität und Resilienz abverlangt. Ich teile die Sorge, dass es manchmal fragwürdig erscheint, diesen Menschen das nächste Kompetenzmodell nahezulegen, wenn die Last der Gegenwart bereits so erdrückend ist.

Gleichzeitig möchte ich jedoch argumentieren, dass die Auseinandersetzung mit der Zukunft gerade der Schlüssel sein kann, um die Gegenwart bewusster und wirksamer zu gestalten. Der Gastbeitrag hebt zurecht hervor, dass die Hochschulbildung oft von der Zukunft besessen zu sein scheint, sei es in Form von „Futureversities“ oder „Future Skills“. Meine eigene Auseinandersetzung mit der Zukunftsforschung, die ich gerade recht intensiv vertiefe (ich kann eine gewisse Faszination damit definitiv nicht leugnen), zeigt mir immer wieder den Wert dieses Forschungsfeldes für mich ganz persönlich. Das Kennenlernen der Zukunftsforschung hat mich ermutigt und mir, vielleicht etwas pathetisch formuliert, eine neue Form von Agency verliehen. Davor dachte ich in einem Rahmen über die Zukunft nach, wie ‚man das halt so macht‘, sei es im Kontext dessen, wohin mein Team in Zukunft gehen wird/soll (Strategie) oder im Kontext der Frage, was KI für die Hochschulbildung bedeutet. Durch das Eintauchen in die Zukunftsforschung hat sich mir dann ein ganz neues Feld erschlossen: systematische Weisen, sich der Zukunft zu nähern, über sie nachzudenken, sie aktiv anzugehen – ohne aber die Kontingenz ‚zähmen‘ oder negieren zu wollen.

Ein zentrales Argument, das ich in meiner Lektüre diese Woche, insbesondere im Artikel „Exploring Alternative Futures in the Anthropocene“, gefunden habe, ist die Notwendigkeit, alternative Zukünfte zu erforschen. Alternativen zu dem, was wir uns so von der Zukunft ausmalen, wenn wir ‚unsystematisch‘ plaudernd über sie sprechen. Cork et al. argumentieren in ihrem Artikel aus dem Jahr 2023, dass wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass die Zukunft eine einfache Extrapolation der Vergangenheit ist. Angesichts tiefgreifender und beschleunigter Veränderungen im Anthropozän, von Klimawandel bis zur Infragestellung demokratischer Systeme, die ja alle bereits jetzt spürbar sind –ich glaube, das leugnet auch gar niemand –, müssen wir proaktiv verschiedene plausible, mögliche und wünschenswerte Zukünfte antizipieren und erforschen, anstatt uns auf eine einzige wahrscheinliche Zukunft zu versteifen oder passiv abzuwarten. Es geht darum, Resilienz aufzubauen und die Bandbreite der Unsicherheiten zu verstehen. Dieser Paradigmenwechsel der Zukunftsforschung umfasst die Erkundung multipler Zukünfte, partizipative Zukunftsgestaltung, die Betonung von Transformation und Anpassung sowie Interdisziplinarität, wie auch bei Voros (2003) dargelegt (ebenfalls eine meiner Lektüren diese Woche). Es geht darum, über den Tellerrand der traditionellen Prognosemethoden hinauszuschauen und explorative, partizipative Ansätze zu nutzen. Besonders hervorheben möchte ich dabei die partizipativen Ansätze, die gerade in der Hochschulentwicklung immer wieder aufgegriffen werden. Das gemeinsame Entwickeln wünschenswerter Zukünfte, d. h. gemeinsam mit Studierenden, ist von riesiger Bedeutung. Gerade hier, im Blick auf die Zukünfte der Studierenden selbst, liegt ein Moment der Agency:Denn durch die Fokussierung auf die Zukunft sagen wir allen: Du musst nicht stehenbleiben. Du darfst anders sein, anders werden, wenn Du mit dem Hier und Jetzt unzufrieden bist. Es ist ein Aufruf zur aktiven Gestaltung, nicht zur passiven Anpassung. Genau hier sind wir aber auch direkt bei einem Problem, das tief in der Gegenwart verankert ist: Studierende machen, so meine Erfahrung, oft nicht mit, weil sie so viel anderes zu tun haben. Solche Angebote sind meist extracurricular und wir wissen alle, dass Studierende neben ihrem Studium noch viele andere Verpflichtungen haben, Nebenjobs, Care-Arbeit etc., und wissen teilweise gar nicht, wie sie all das stemmen sollen. Da sind wir also mitten in der Gegenwart, bei den gegenwärtigen systemischen Herausforderungen, auf die ich später noch näher eingehe.

Ein weiterer wichtiger Punkt des Gastbeitrags ist die Auseinandersetzung mit dem omnipräsenten Diskurs um die Transformation der Hochschule und die damit verbundenen „Future Skills“. Lavinia Kamphausen merkt an, dass viele Menschen diese Kompetenzen ohnehin schon immer einüben (mussten), um im System Hochschule zu bestehen – sei es durch das Finden von Lösungen, das Einstellen auf Veränderungen, das Leben von Gemeinschaft oder das Organisieren in unsicheren Zeiten. Dem stimme ich vollkommen zu! Genau hier liegt für mich aber auch ein großer Wert von Future Skills: Sie möchten diese Kompetenzen explizit machen. Nur weil ich eine Kompetenz instinktiv in der Performanz zeigen kann oder in einer bestimmten Situation erwerben musste, bedeutet das nicht, dass ich mir ihrer bewusst bin. Und ich kann erst dann wirklich kompetent handeln, wenn ich ein entsprechendes metakognitives Bewusstsein dafür habe, dass ich zum Beispiel gerade diese oder jene Fähigkeit einsetze oder benötige. Dieses Bewusstwerden, dieses Bewusstmachen, dieses Explizieren und Reflektieren von Kompetenzen auf einer metakognitiven Ebene, genau darum geht es u. a. bei Future Skills. Daher sehe ich hier keine Diskrepanz zwischen Lavinia Kamphausens Sicht und meiner Position, sondern vielmehr eine Ergänzung. Es ist die bewusste Reflexion, die uns ermöglicht, Gelerntes gezielter einzusetzen und weiterzuentwickeln. Übrigens ist es ein Missverständnis, das im Kontext der Diskussion um Future Skills leider oft auftaucht – und ja, die Bezeichnung „Future Skills“ ist da natürlich nicht gerade förderlich –, zu glauben, dass es darum geht, sich auf eine ferne Zukunft vorzubereiten; es geht gerade um das Hier und Jetzt, um die Herausforderungen, die wir heute meistern müssen. Future Skills sind dafür da, „disruptiven Wandel […] mitzugestalten“ (Dippelhofer et al. 2025, S. 46) und sie kommen „in hochemergenten Handlungskontexten“ (Ehlers 2021, S. 356) zum Tragen. Diese Handlungskontexte erscheinen im Hier und Jetzt und nicht in einer fernen Zukunft. Unsere heutige Welt ist VUCA und BANI und daher brauchen wir Future Skills – oder, um das „Future“ zu vermeiden, 21st Century Skills oder transformative Kompetenzen – heute.

Future Skills werden immer wieder als einer neoliberalen Agenda dienend betrachtet. Das ist teilweise sicherlich berechtigt und daher ist es eine wichtige Debatte, die wir führen müssen. Ja, dies kann bis zu einem gewissen Grad zutreffen, wenn Future Skills falsch verstanden oder isoliert betrachtet werden. Doch auch hier ist die Frage, wie wir sie verstehen und interpretieren. Für mich sind Future Skills untrennbar mit Werten verbunden und verschiedene Definitionen betonen diesen Wertebezug ganz klar, etwa in der schon oben zitierten Definition von Dippelhofer et al. (2025, S. 46): „Future Skills befähigen Menschen, disruptiven Wandel auf Basis der Reflexion eigener sowie gesellschaftlicher Werthaltungen individuell und gemeinschaftlich mitzugestalten.“ Es geht uns nicht darum, noch mehr Employability zu schaffen, um in einem immer härteren Arbeitsmarkt zu bestehen. Vielmehr geht es darum, die nötige Flexibilität und Resilienz zu entwickeln, um mit den Unsicherheiten und Herausforderungen unserer Zeit umzugehen, ohne dabei unsere eigenen Werte und unser Wohlergehen zu opfern, ja, vielmehr, indem dabei Wertehaltungen als Kompass fungieren. Es geht nicht darum, sich anzupassen, sondern um die Fähigkeit, bewusst zu agieren und sich nicht von den Umständen überwältigen zu lassen.

Ein Punkt, den ich anders beurteile als Lavinia in ihrem Gastbeitrag, ist, dass Future Skills Ausdruck einer Individualisierung von Wohlergehen sind. Während bei Schlüsselkompetenzen, aus denen sich Future Skills historisch entwickelt haben, tatsächlich oft eine Individualisierung im Vordergrund stand – der Einzelne sollte das für sie:ihn passende ‚Skillset‘ entwickeln – ist es für mich ein konstitutives Element von Future Skills, dass sie immer auch auf das Kollektiv schauen. Disruptive Transformationen, um ein Buzzword zu gebrauchen, können nur kollaborativ bearbeitet werden. Es geht also darum, wie wir als Gesellschaft gemeinsam handeln können und wie wir Gemeinschaften stärken können, um einer Isolierung Einzelner entgegenzuwirken und wirklich genug Power zu haben, die Herausforderungen anzugehen. Nehmen wir beispielsweise Service Learning, das wir bei uns am LehrLernZentrum als ein Lernformat führen und wozu wir einige Angebote im Portfolio haben. Hier engagieren sich Studierende direkt im Hier und Jetzt, etwa indem sie Nachhilfe geben, in Nachhaltigkeitsinitiativen mitwirken oder in ‚Schülergerichten‘ (Teencourt) mitwirken. Solche Projekte fördern nicht nur individuelle Kompetenzen, sondern stärken das Gemeinschaftsgefühl, die soziale Verantwortung und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Es geht darum, gemeinsam Lösungen für gegenwärtige (!) Probleme zu finden und dabei Fähigkeiten zu entwickeln, die der Gesellschaft zugutekommen. Dadurch fördern wir, so unser Claim, Future Skills. Hier wird deutlich, dass Future Skills nicht nur auf die individuelle Vorbereitung auf die Zukunft abzielen, sondern ganz konkret im Hier und Jetzt stattfinden und einen Bezug haben, der über das Individuelle hinausgeht.

Um zum Thema ‚Partizipation‘ zurückzukommen, das ich oben schon angerissen habe: Lavinia spricht hier einen absolut validen und wichtigen Punkt an: „So mag das Einüben von Future und Transformative Skills zwar in vielen Kontexten heute als absolute Notwendigkeit gehandelt werden – es ist aber auch ein Privileg. Es geht von Studierenden aus, die neben Studium, Nebenjobs, Sorgearbeit und sonstigem Kompetenzerwerb auch noch Zeit und mentale Kapazitäten für den Erwerb von Kompetenzen haben, die sie vielleicht ohnehin entwickeln würden, gäbe es mehr studentisch organisierte Räume, hätten sie mehr Zeit, sich auf ihr Studium zu konzentrieren, mehr Kontexte, in denen sie Gemeinschaft erfahren können, mehr Einfluss in universitären Gremien“. Dem stimme ich voll und ganz zu! Genau das ist die Herausforderung: Die Förderung von Future Skills läuft an Hochschulen oft additiv, also ‚on top‘ und ist damit eine zusätzliche Belastung in einem ohnehin bereits überfüllten Alltag. Deshalb setzen wir am LehrLernZentrum uns z. B. dafür ein, dass unsere Angebote viel stärker ins Curriculum integriert werden – und zwar nicht abseits von Fachlehre, sondern in Fachlehre integriert. Es ist nicht unser Ziel, noch mehr Druck auf Studierende auszuüben, wohl aber, Anlässe zu schaffen, die Notwendigkeit und die Entwicklung von Future Skills zu reflektieren. Studierende sollen erkennen, welche Fähigkeiten sie bereits besitzen und wie sie diese gezielt einsetzen und weiterentwickeln können. Es geht nicht darum, ihnen noch mehr aufzulasten, sondern das vorhandene Potenzial sichtbar und nutzbar zu machen und dabei die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass dieses Lernen nicht nur möglich, sondern selbstverständlich wird. Dies schließt die Idee der „Spirale transformativen Lernens“ ein, wie sie von Graupe & Bäuerle (2023) beschrieben wird und auf die ich diese Woche gestoßen bin. Sie betonen die Fähigkeit, „frei Prozesse der Sinnstiftung zu vollziehen“, was bedeutet, „offene Zukünfte (tatsächlich im Plural!) entwerfen und so einer ‚Kolonialisierung der Zukunft durch die Gegenwart‘ (Miller, 2018a, S. 21) aktiv vorzubeugen“. Dieser Ansatz untermauert die Notwendigkeit, über das bloße Reagieren auf die Gegenwart hinauszugehen und aktiv an der Gestaltung einer wünschenswerten Zukunft mitzuwirken: „[E]s sollte solche Prozesse geben, in denen radikal Neues entwickelt und erprobt werden kann; ein pädagogischer Freiraum, aus dem in dieser Offenheit auch neue Selbstverhältnisse entstehen können: an ‚existential space, a concrete space of practical freedom: a space of possible self-transformation‘ (Masschelein, 2010, S. 47). Die konstruktive Seite im Sinne einer starken, selbst-bewussten agency – der Fähigkeit zur Enaktierung von (individuell) Gewolltem statt nur (sozial) Erinnertem (vgl. Archer, 2000; Unger, 2007) – ausbilden und ausleben zu können, ist ein wesentliches Ziel des neu Sein in unserer Spirale transformativen Lernens“.

Abschließend möchte ich nochmals betonen, dass die Auseinandersetzung mit der Zukunft und die Entwicklung von Future Skills keine Flucht vor den Herausforderungen der Gegenwart darstellen, sondern vielmehr ein Werkzeug, um diesen Herausforderungen proaktiv und gemeinsam zu begegnen. Es geht darum, das Hier und Jetzt bewusst zu erleben, dessen Komplexität anzuerkennen und gleichzeitig eine Offenheit für das Unvorhersehbare zu bewahren, das Jacques Derrida als „l’avenir“ bezeichnete – die wahre Zukunft, die auf uns zukommt. Denn auch wenn „All we have is now“, so ist dieses „Now“ doch untrennbar mit unseren Vorstellungen, Hoffnungen und Handlungen für die Zukunft verbunden. Es ist die Verantwortung, die wir aus unserer Gegenwart heraus für das Morgen übernehmen, indem wir lernen, reflektieren und gemeinsam handeln, um die Transformation zu gestalten, die unsere Welt und unsere Hochschulen so dringend brauchen. Und zwar schon im Hier und Jetzt.

Noch ein Hinweis, ganz unabhängig von diesem Blogpost: Diese Woche erschien Episode 103 des LectureCast, in der ich zu Gast war zum Thema „Kompetenzorientierung und Constructive Alignment“. Überall dort, wo es Podcasts gibt – oder hier.