Die Paradoxien von KI-Lerntools

Viele Personen im Bildungswesen fragen sich seit einiger Zeit, welche Auswirkungen KI-Tools auf das Lernen haben. Zu diesem Thema bin ich diese Woche auf drei Ressourcen gestoßen, die ich in diesem Blogartikel verbinden möchte.
Starten wir bei den positiven Auswirkungen von KI-Tools auf das Lernen. Prinzipiell kann das eigene Lernen durch KI-Tools sehr gut unterstützt werden, sogar vielleicht besser denn je. Mit Tools wie WisdomPlan oder Tutorai.me kann ich mir personalisierte Lerneinheiten zusammenstellen lassen und dabei an meinem persönlichen Vorwissen anknüpfen, ganz so, wie es lernförderlich ist. Ich kann mein Lernen persönlich bedeutsam machen und kann mir Lernziele vorschlagen lassen, sodass ich weiß, worauf ich hinarbeite.
In lernunterstützenden KI-Tools liegt aber auch eine gewisse zweifache Paradoxie.

  • Paradoxie 1: Warum soll ich überhaupt noch etwas lernen, wenn KI mir doch ohnehin jede Frage beantworten und auf einem fachlichen Level spielen kann, das ich nur durch viele Stunden Lernen und Üben erreiche?
  • Paradoxie 2: Durch KI-Tools erscheint Lernen noch müheloser, noch smoother – Lernen per Mausklick, perfekt. Wirklich perfekt? Denn zeichnet sich Lernen nicht gerade dadurch aus, dass es den Boden unter den Füßen wegziehen kann, transformative Kraft hat (s. threshold-Konzept)?

Zu Paradoxie 1 hat Nele Hirsch diese Woche gebloggt. Sie beschäftigt mit der Frage, warum Lernen auch in Zeiten von KI wichtig bleibt. Dabei verweist sie auf die Idee einer ‚Bankiers-Erziehung‘, nach der Bildung als bloßer Wissens-Transfer verstanden wird, der sich am Ende für die als passiv verstandenen Lernenden auszahlt. Nele bringt drei Beispiele aus ihrer eigenen Bildungsbiografie, die man aus einer solchen Verwertungslogik als nutzloses Lernen bezeichnen würde (Mathe-Abi mit Funktionenberechnung, Gedichtinterpretation in Deutsch und Lernen von Sprachen im Studium, die inzwischen wieder komplett vergessen sind). Sie argumentiert dann, dass Lernen nicht allein durch seine Verwertbarkeit gemessen werden sollte: „Meine Auffassung ist, dass dieses und vieles weitere Lernen von mir in der Schule und an der Uni alles andere als unnütz war, auch wenn ich nichts mehr von meinen damals gelernten Inhalten heute ganz direkt ‚brauche‘. Erstens konnte ich das vorher nicht wissen. Das Lernen hat mir somit Perspektiven eröffnet, für oder gegen die ich mich bewusst entscheiden konnte. Zweitens hat das Lernen etwas mit mir gemacht, was mein Leben und damit mich geprägt hat und prägt.“ Der Blogpost betont den tiefen Nutzen des Lernens, der in persönlicher Entwicklung, Freude, dem Ermöglichen von Resonanzerfahrungen liegt. Nele schreibt: „Überflüssig würde man Lernen nur dann einordnen, wenn das Lernen ausschließlich direkt verwertbar sein soll. Das wäre ein sehr maschinell geprägter Blick auf das Lernen und mindestens als einziger Blick nicht ausreichend“. Generative KI ist hier eine große Chance, idealistisch betrachtet, den Wert von Lernen neu zu definieren. Mit Lehrenden aus geisteswissenschaftlichen Fächern, für die ich gestern ein Seminar gegeben habe, habe ich genau darüber gesprochen. Hier habe ich für schonungslose Offenheit geworben: Warum nicht einfach mal ins Seminar gehen und die Studierenden fragen, warum sie eigentlich da sind. Was sie sich von ihrem Studium erhoffen. Ob sie die Möglichkeit nutzen würden, jede Klausur und jede Hausarbeit von KI-Tools schreiben zu lassen, komplett ohne eigenes Zutun. Und wenn ja, was sie davon hätten und wie sie die Uni am Ende verlassen würden. Ich glaube an den Wert einer solchen ‚Konfrontation‘, eines ‚Herausbeamens‘ aus dem Uni-Alltag, der für manche eine gefühlt endlose Reihe an Klausuren und Hausarbeiten ist. Warum bin ich hier? Warum habe ich mich für ein Studium entschieden? Was will ich mit meiner Zeit hier anfangen? Ich denke, das ist ein guter und wichtiger Gesprächsanlass in unserer Zeit …

Zu Paradoxie 2 verweise ich auf einen Post auf X von Andrej Karpathy, ehemaliger KI-Direktor bei Tesla, von Februar 2024. Der slovakisch-kanadische Informatiker spricht in seinem Post über die sogenannte „Shortification of Learning“. Er kritisiert den Trend, Lernen als etwas Kurzweiliges und Unterhaltsames zu gestalten. Viele Inhalte, die als Bildung erscheinen, seien in Wirklichkeit eher Unterhaltung. Das ist bequem für beide Seiten: Die Zuschauenden denken, sie würden lernen, während sie eigentlich nur Spaß haben, und die Content-Erstellenden erzielen durch unterhaltsames Material eine größere Reichweite. Doch dieser scheinbare Bildungskonsum sei trügerisch. Lernen erfordert Anstrengung erfordert – Arbeit und mentale Energie, ähnlich einem intensiven Workout. Kurzformate, die versprechen, komplexe Themen in wenigen Minuten zu vermitteln, seien zwar besser als nichts, aber sie seien bei weitem nicht optimal. Für Karpathy stellt sich die Frage nach dem Ziel: Will man unterhalten werden oder will man wirklich lernen? Dieser Unterschied sollte sowohl den Lernenden als auch den Lehrenden bewusst sein. Er fordert dazu auf, sich von schnellen Lernhäppchen zu verabschieden und stattdessen den „mentalen Schweiß“ wertzuschätzen, den Lernen mit sich bringt.
Karpathys Plädoyer passt hervorragend zu Paradoxie 2: Wenn KI-Tools uns das Lernen scheinbar so leicht machen, sollten wir uns fragen, ob Lernen überhaupt noch als transformierende, tiefgreifende Erfahrung wahrgenommen wird – oder ob wir uns von verführerischen, aber oberflächlichen Inhalten blenden lassen, die keinen nachhaltigen Lernerfolg bieten.
Die dritte Ressource, auf die ich dazu diese Woche gestoßen bin, ist die Liste Top 100 Tools for Learning 2024. 1599 „learning professionals (and others in related areas)“ haben hierfür ihre top 10 (digitalen) Lerntools angegeben. Und voilà: Auf Platz 1 ist wiederholt YouTube, gefolgt von ChatGPT. Ich verteufle KI-Lern-Tools und Video-Plattformen wie YouTube zum Lernen nicht per se. Diese bieten viele wertvolle Möglichkeiten, um effektiv zu lernen. Aber entscheidend ist, dass das reine Konsumieren von Videos nicht ausreicht. Es braucht die Bereitschaft zur Reflexion und Elaboration, um das Gelernte wirklich zu verinnerlichen. Kompetentes Handeln basiert auf der Fähigkeit, Entscheidungen zu begründen, was nur durch tiefes Verständnis und aktive Auseinandersetzung mit dem Wissen möglich ist.

Welche Auswirkungen hat es, wenn Lernen durch KI-Tools und Lernvideos wie ein netter Zeitvertreib erscheint und nur noch als solcher praktiziert wird? Wenn kein ‚mentaler Schweiß‘ mehr produziert wird? Welche Vorstellungen werden künftige Generationen von schulischem und hochschulischem Lernen haben? Ich glaube nicht, dass kein Lernen mehr stattfinden wird. Aber es wird sich (radikal?) verändern und es stellt sich natürlich die Frage nach dem Wie …

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