Bildungsbegriff & Disruption

Endlich Freitag, endlich Wochenende. Die Luft ist raus, die Woche bestand aus einem Abarbeiten einer langen Reihe von kleinen Aufgaben, die alle getan werden mussten, die intellektuell aber nicht gerade herausfordernd waren. Umso mehr freue ich mich auf nächste Woche: Ich habe frei und nutze die Tage, um in ‚Schreibklausur‘ zu gehen und an meinem Lehrbuch weiterzuschreiben. Um mal wieder viel zu lesen (aktuell „Mütter, Väter und Täter“ von Siri Hustvedt). Und für eine Diskussion mit einem Pädagogen zur Frage nach der normativen Ausrichtung von Bildung.

Mein Hintergrund ist in der Sprachwissenschaft, ich habe mich seit meiner Promotion viel mit Hochschuldidaktik beschäftigt – Bildungswissenschaften, Pädagogik, Erziehungswissenschaften sind mir aber recht fremd. Um gerade auch in der ganzen Diskussion um generative KI an Hochschulen und deren disruptiver Wirkung fundierter argumentieren zu können, möchte ich mein Nichtwissen in diesem Bereich aufweichen. In dieser Woche habe ich ein paar Publikationen von Gert Biesta gelesen, außerdem eine Festrede von Peter Bieri. Während ich diese Zeilen schreibe, ist ein Artikel von Jürgen Mittelstraß geöffnet mit dem Titel „Bildung in einer Wissensgesellschaft“. Mittelstraß schreibt, „dass Gedanken über Bildung häufig das Schicksal ihres Gegenstandes teilen, nämlich ungemein gebildet und – vielleicht aus eben diesem Grund – folgenlos zu sein“. Dieses Gefühl habe ich inzwischen bei immer mehr Veranstaltungen zu ‚KI in der Hochschule‘. Während auch ich selbst am Anfang die Hoffnung hatte, dass die disruptive Technologie endlich der Paukenschlag ist, auf den einige lange gewartet haben und der endgültig zum Vollzug des ‚shifts from teaching to learning‘, vom Wandel von Lehrenden weg vom ‚sage on the stage‘ und hin zum ‚guide on the side‘ führt, hat sich diese Hoffnung inzwischen zerschlagen. Alles scheint einfach weiterzugehen. Und wie oft sind Artikel zum Thema ‚Hochschulbildung im KI-Zeitalter‘ rein idealistisch? Wo bleibt die Verbindung zwischen Idealismus und Realismus?

Aus diesem Grund habe ich beschlossen, dass ich mich endlich fundiert mit dem Bildungsbegriff auseinandersetzen muss. Ich möchte nicht eine weitere Person sein, die phrasen- und plattitüdenhaft von diesem Begriff Gebrauch macht. Und dabei habe ich mir letzte Woche schon die Nase gestoßen. Eine Person (die ich hier nicht namentlich nennen möchte, weil ich nicht weiß, ob sie das möchte) argumentierte in einem Gespräch, dass Bildung wertfrei sein müsse, nicht auf Citizenship oder Demokratie oder Employability oder sonst etwas ausgerichtet sein dürfe. Mit meiner bislang noch nicht tiefergehend erfolgten Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff gab mir das doch sehr zu denken. Deshalb schrieb ich im Nachgang eine Mail an die Person: „Du hattest gesagt, dass du den Begriff Demokratiebildung nicht magst, wenn ich dich richtig verstanden habe, weil du der Meinung bist, dass Bildung immer erst mal nur Menschen ermächtigen sollte, dass sie sich orientieren können, dann Entscheidungen treffen können und auch ihre Werte reflektieren können. Je mehr ich darüber nachdenke, desto krasser kommt mir das vor, Bildung in einem solchen, ja doch letztlich wertefreien Rahmen zu denken. Wir haben als Gesellschaft sehr lange gebraucht, bis wir zur Demokratie gekommen sind, deren Grundprinzip es ja ist, dass jeder Mensch erst einmal gleich viel wert ist, unabhängig von diversen anderen Faktoren. Ich finde, dass es eine sehr große Errungenschaft ist, für die ja auch sehr viele Menschen gestorben sind. Natürlich hat Demokratie auch ihre Schwachstellen, aber das hat letztlich jede Regierungsform und ich glaube, dass Demokratie die wenigsten Schwachstellen hat. Sollte es nicht unsere Aufgabe als Gesellschaft sein, in Schule und Hochschule in diesem Sinne zu bilden und mit dieser Grundprämisse, dass alle Menschen gleich viel wert sind, Bildung zu betreiben?“

Wir sind nächste Woche zum Diskutieren verabredet und ich freue mich riesig auf das Gespräch, durch das ich sicher sehr viel lernen kann. Ich teile nächste Woche dann die Ergebnisse der Diskussion.

Ein weiteres Thema hat mich diese Woche noch intensiver beschäftigt. In einem Seminar fragte mich gestern eine Lehrende, ob ich davon ausgehe, dass wir jetzt erst einmal „Ruhe haben“ oder ob ich im Bereich der generativen KI nochmals eine ähnliche Disruption ‚vorhersehe‘ wie sie durch den Launch von ChatGPT am 30.11.2022 kam. Ich gab ihr eine Antwort und lustigerweise las ich heute in etwa das, was ich ihr geantwortet hatte, im Newsletter von Ethan Mollick. Darin schreibt er u. a. „I expect that many other such thresholds will be crossed, quietly, as models steadily improve. Only a few people will notice.“ Auch wenn seine Argumentation in eine andere Richtung geht: Ich denke, dass dies den Kern der Entwicklungen trifft, die wir in den nächsten Monaten und Jahren (?) im Bereich generativer KI erleben werden: Es wird wohl erst einmal keinen ‚ChatGPT‘-Moment mehr geben – und dennoch wird sich ganz viel tun, aber eben unter dem Radar einer breiten Öffentlichkeit. Wenn wir zurückschauen, sehen wir, welch unglaublichen Leistungssteigerungen ChatGPT seit dem 30.11.2023 hingelegt hat. Aber eben nur in der Rückschau. Und so meinte ich gestern zu den Seminarteilnehmenden, dass es keinen ‚Schockmoment‘ mehr geben wird für die, die sich kontinuierlich mit den technologischen Fortschritten beschäftigen. Aber wer mal einen Monat oder mehr ‚weg war vom Fenster‘, wird überrascht sein, was sich alles getan hat. Nehmen wir ein weiteres Beispiel aus dem Seminar gestern: Ein Teilnehmender sagte, dass ChatGPT ja nur Fake-Literaturquellen angeben würde, also halluzinierte Quellenangaben. Daraufhin fragte ich ihn, wann er das das letzte Mal ausprobiert habe. Antwort: vor einem halben Jahr. Er wusste auch nicht, dass man auf GPT4o kostenlos zugreifen kann. Als ich ihm demonstrierte, auf welchem Stand wir heute sind, dass man inzwischen auch als ‚non pay‘-Nutzerin GPTs wie etwa das von Consensus nutzen kann, war er überrascht. Und ich glaube, dass das ein großes Thema ist: Wie können Leute mitgenommen werden, die sich nicht wöchentlich up-to-date halten können, welche Sprünge genKI nun schon wieder gemacht hat? An der Hochschule RheinMain habe ich einen KI-Newsletter ins Leben gerufen, der niederschwellig einmal im Monat über Neuerungen informiert (mit einem Fokus auf Hochschullehre & Studium). Zum einen muss man sich aber auch hier aktiv in der entsprechenden Empfänger-Gruppe registrieren. Zum anderen ersetzt dies auch nicht das Ausprobieren der Tools, um wirklich selbst zu erleben, welche Qualitätssprünge es gibt. Und gerade dieses eigene Herumexperimentieren ist entscheidend: „The expansion of the jagged frontier of AI capability is subtle and requires a lot of experience with various models to understand what they can, and can’t, do”. Mollick schlägt aus diesem Grund eine “impossibility list” vor – eine sehr charmante Idee, wie ich finde: “That is why I suggest that people and organizations keep an “impossibility list” – things that their experiments have shown that AI can definitely not do today but which it can almost do. For example, no AI can create a satisfying puzzle or mystery for you to solve, but they are getting closer. When AI models are updated, test them on your impossibility list to see if they can now do these impossible tasks”.

Ethan Mollicks These ist übrigens, dass es die kleinen Veränderungen in der User Experience von KI-Tools sind, durch die Schwellen überschritten werden. Als Beispiel verweist er auf Claude 3.5s „Artefakte“: „These are little bits of code that Claude can create and run, a feature GPT-4 has had for over a year with its Code Interpreter. Indeed, Code Interpreter is much more full-featured than Claude’s artifacts… but the artifacts are more interactive, faster to create, and easier to use. Plus, Claude 3.5 is a friendly, chatty model. It turns out that is enough to cross a threshold of use”.

Am Wochenende werde ich übrigens mal wieder in eine Welt eintauchen, die zumindest für Lai:innen noch ganz verschont ist von KI: Morgen steht ein Fahrradschraub-Workshop auf dem Programm, sodass ich künftig auch größere Reparaturarbeiten am E-Bike alleine erledigen kann. ChatGPTs Unterstützung war hier zuletzt trotz detaillierter Fotos nicht so hilfreich wie erhofft. Ich setze also mal wieder auf echte Menschen 😉